Redebeitrag von Martin Zinkler bei der Protestveranstaltung gegen den WPA-Weltkongress in Berlin

Für eine Psychiatrie ohne Zwang

Herzlichen Dank, liebe Frau Fricke für die Einladung zu dieser Veranstaltung. Es hat mich verwundert, hier als Psychiater zu Wort zu kommen, steht doch die Psychiatrie für ein System, in dem weltweit Millionen von Menschen diskriminiert, bevormundet, eingesperrt, unter Anwendung von Gewalt behandelt werden und viele Jahre früher als nötig zu Tode kommen.

Die UN Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen wurde 2008 vom Deutschen Bundestag ratifiziert. Damit wurde zunächst einmal anerkannt, dass es diese Konvention braucht, weil Menschen mit psychischen Erkrankungen tagtäglich in ihren Rechten eingeschränkt und bei der Ausübung ihrer Rechte behindert werden.

Zentrales Anliegen der Konvention ist das Recht von Menschen mit Behinderung auf Unterstützung, um ihre Rechte wahrzunehmen und durchzusetzen. Dazu gehört das Recht auf Leben, auf Gesundheit und auf gleiche Anerkennung vor dem Recht.

Menschen mit psychischen Behinderungen sterben aber in Deutschland und vielen anderen Ländern früher als Menschen ohne psychische Behinderungen, sie haben mehr und häufigere gesundheitliche Probleme und ihnen wird bei sogenannter Einwilligungsunfähigkeit des Recht vorenthalten, über ihre Gesundheit selbst zu entscheiden.

Eigentlich wäre es die Aufgabe der Psychiatrie, genau die Unterstützung zu leisten, die von der Konvention gefordert wird. Dazu gibt es positive Ansätze, etwa beim Zugang zur Psychotherapie oder beim persönlichen Budget. Allerdings gibt es viel mehr Bereiche, in denen die Psychiatrie dieser Aufgabe nicht gerecht wird. Einer dieser Bereiche ist die Anwendung von Zwang in der psychiatrischen Behandlung.

In Deutschland gibt es keine psychiatrische Klinik, die ohne die Anwendung von Zwang auskommt, jedenfalls nicht unter den Kliniken mit sogenannter Pflichtversorgung, in die Menschen von der Polizei oder mit einem Beschluss eines Gerichts in einem Notfall gebracht werden können. Daraus könnte man den Schluss ziehen, Zwangsmaßnahmen seien ein Teil der psychiatrischen Arbeit, und so lange die Verhältnisse so bleiben wie sie sind, könne man daran nicht viel ändern.

Deutschland leistet sich aber wie in so vielen anderen Bereichen unglaubliche Unterschiede der Lebensverhältnisse. So ist Ihr Risiko, als Patient einer psychiatrischen Klinik in Herne, Westfalen, Opfer einer Zwangsmaßnahme zu werden, bei weniger als 1%, in manchen Kliniken in Baden-Württemberg jedoch 12% oder sogar in einem Fall 17%.

Dazu kommt, dass die meisten Kliniken in Deutschland gar keine Angaben über die Anwendung von Zwang machen und solche Daten schon gar nicht der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Wäre es nicht wenigstens ein Anfang, wenn alle psychiatrischen Kliniken vom Gesetzgeber verpflichtet würden, die Anwendung von Zwang überprüfbar zu erfassen und im jährlichen Qualitätsbericht der Klinik der Öffentlichkeit zur Verfügung stellten?

Immerhin gibt es Fortschritte. Die Bundesländer Baden-Württemberg und Hessen haben bei der Reform ihrer Psychiatriegesetze eine landesweite Erfassung von Unterbringungen, Zwangsbehandlungen und Zwangsmaßnahmen eingerichtet. Leider werden die Daten nicht veröffentlicht, so dass Patienten und Angehörige sich informieren können, wie in ihren Kliniken vor Ort gearbeitet wird. Der Bundestag hat es bei den Neuregelungen im Betreuungsrecht verpasst, die Kliniken zu einer Erfassung von Zwangsmaßnahmen und Zwangsbehandlungen in dieser Weise zu verpflichten.

Dabei sagen alle, die Anwendung von Zwang in der Psychiatrie müsste auf das absolute Minimum reduziert werden. Das stimmt, aber wo liegt denn das absolute Minimum, bei 12% in einer baden-württembergischen Klinik, bei 8% in Bayern oder bei 3% in Berlin? Und wenn man es ernst meint mit dem “absoluten Minimum”, würde man dann nicht von allen Einrichtungen verlangen, solche Daten zu erfassen und zu veröffentlichen?

Wie sieht es mit der Zwangsbehandlung aus? In Hessen und in Baden-Württemberg ist eine Zwangsbehandlung sowohl bei einwilligungsfähigen als auch einwilligungsunfähigen Patienten möglich. Dies widerspricht den aktuellen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts. Dass in Hessen und in Baden-Württemberg die Grünen, die sich als Partei der Bürgerrechte verstehen, in der Regierungsverantwortung solche Gesetze beschließen, ist nicht nur eine Schande, sondern auch ein Beispiel, wie auch heute noch die Bürgerrechte für viele gelten und für manche weniger.

So lange es sich in Deutschland ein Bundesland mit einer konservativen Regierung leisten kann, ungestraft an der Konvention vorbei Gesetze zu beschließen, so lange braucht sich Deutschland nicht zu wundern, wenn es eins ums andere Mal von den Vereinten Nationen dafür gerügt wird. Deutschland droht bei diesen Fragen international ins Hintertreffen zu geraten. Gerade Deutschland!

Aber auch von anderer Seite gab es in Hessen wenig zu hören in dieser Richtung: nichts war zur Zwangsbehandlung von einwilligungsfähigen oder nicht einwilligungsfähigen Patienten von den Psychiatern zu hören, aber auch nicht von der Fachgesellschaft, der DGPPN (Diese Aussage ist nachweislich falsch, die DGPPN hat sich in einer Stellungnahme zum Entwurf für ein hessisches Psychiatriegesetz am 14.06.2016 ausdrücklich gegen die Zwangsbehandlung von einwilligungsfähigen Patienten ausgesprochen. Der Autor bedauert diese Aussage getätigt zu haben; er war an der entsprechenden Stellungnahme der Fachgesellschaft beteiligt. Ergänzung zum Redemanuskript vom 21.10.2017) oder von der DGSP, der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie. Einzig die Partei “die Linke” hatte sich zu Wort gemeldet, am Ende vergeblich.

Nun mag man den Einrichtungen der Psychiatrie zubilligen, dass sie einen gesetzlichen Auftrag erfüllen, wenn es das Betreuungsrecht und die Landespsychiatriegesetze vorsehen, Menschen mit psychischen Behinderungen in der Psychiatrie gegen ihren Willen in Kliniken und in Wohnheimen oder Pflegeheimen unterzubringen. Wenn sich die Betroffenen dann gegen diese Maßnahmen wehren, was sollen die Einrichtungen machen?

Was soll ein Mitarbeiter einer solchen Einrichtung machen, wenn er von einem Patienten oder Bewohner angegriffen wird? Bleibt da nur das Festbinden am Bett oder das Einsperren in einem Isolierzimmer? Dennoch machen die höchst unterschiedlichen Raten bei der Anwendung von Zwang stutzig. Was machen denn die Kliniken mit ein oder drei Prozent anders als die mit 10 oder 12%? Sind die Menschen mit psychischen Behinderungen in Stuttgart gefährlicher als in Herne?

Natürlich nicht! Das was sich unterscheidet sind die Verhältnisse im Hilfssystem vor Ort. Wir wissen heute, dass es Kliniken mit offenen Stationen, die ihre Patienten nicht nach Diagnosen und Schwere der Krankheit unterschiedlichen Stationen zuordnen, besser gelingt, Zwangsmaßnahmen und Gewalt auf den Stationen zu vermeiden. Wir dürfen annehmen, dass Kliniken, die sich aktiv in der Gemeinde um die Menschen mit psychischen Störungen kümmern, sei es durch ambulante psychiatrische Pflege, sei es durch Hometreatment, mit Regionalbudgets oder in der integrierten Versorgung, dass diese Kliniken weniger Patienten im zermürbenden, anstrengenden und gesundheitsgefährdenden Modus der Drehtürpsychiatrie haben.

Was also brauchen wir für eine Psychiatrie ohne Zwang:

1. Eine gesetzliche Verpflichtung für alle Träger der psychosozialen Versorgung, Kliniken, Wohnheime und Pflegeheime zur vollständigen Erfassung von Zwangsmaßnahmen und Veröffentlichung der Daten in ihren Qualitätsberichten.

2. Ein Verbot von geschlossenen Stationen und von Stationen, in denen schwer kranke Patienten zusammengefasst werden. Die Kliniken sollen verpflichtet werden, auf allen Stationen ein gewaltvermeidendes Milieu zu schaffen. Dazu gehört auch ein von innen verriegelbares Einzelzimmer für alle Patienten, die dies wünschen. Nicht anders als jeder von uns, der eine Nacht im Hotel verbringt.

3. Ein Verbot von geschlossenen Wohn- und Pflegeheimen.

4. Ein Verbot der zwangsweisen Anwendung von Psychopharmaka oder Elektroschock.

5. Der Gefährdung durch selbstverletzendes und aggressives Verhalten soll durch intensive Betreuung mit geschultem und ausreichend vorhandenem Personal begegnet werden.

6. Patienten und Bewohner erhalten Unterstützung bei der Abfassung von Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten und Behandlungsvereinbarungen.

7. Flächendeckendes Hometreatment in Deutschland, das so vergütet wird, dass die Kliniken keine finanziellen Anreize mehr für stationäre Behandlungen haben.

8. Und schließlich, und am allerwichtigsten: die Beteiligung von Psychiatrie-Erfahrenen bei allem, wo Psychiatrie draufsteht und wo Psychiatrie drin steckt: bei der Gesetzgebung, bei der Forschung, in den Aufsichtsgremien, bei den Fachgesellschaften – DGPPN und WPA, und den Fachverbänden, in den Aufsichtsräten der Kliniken und der Träger der Gemeindepsychiatrie.

9. Und unbedingt: ein Ende der Diskriminierung von psychisch Kranken durch die Strafjustiz. Während jeder Straftäter mit dem Strafmaß eine konkrete Aussicht und ein Datum zum Wiedererlangen der Freiheit bekommt, so wird genau diese Hoffnung psychisch Kranken vorenthalten. Sie sind der Willkür oder Güte, dem politischen Wind und den regionalen Gegebenheiten der Gutachter und Strafvollstreckungskammern ausgeliefert. Der §63 diskriminiert psychisch Kranke eklatant gegenüber nicht psychisch Kranken. In Italien wurde genau dieser Diskriminierung mit einer Reform des Strafrechts abgeholfen. Weshalb nicht auch in Deutschland? Wo sind mutige Gesetzgeber, die sich vom mangelnden Reformgeist in der deutschen Psychiatrie nicht entmutigen lassen?

Ich möchte mit einem Hoffnungsschimmer zum Ende kommen: im neuen §1906a BGB, in dem seit Juli dieses Jahres die Zwangsbehandlung geregelt ist, steht ausdrücklich, dass eine solche nur dann in Frage kommt, wenn sie dem Willen des Betroffenen nach §1901a BGB entspricht. Im §1901a sind die Patientenverfügung aber auch der sogenannte mutmaßliche Wille geregelt. Eine Zwangsbehandlung kommt also nur noch dann in Frage, wenn der Betroffene eine solche in einer Patientenverfügung festgelegt hat, oder wenn sie dem sogenannten mutmaßlichen Willen entspricht.

Der mutmaßliche Wille meint bei sogenannter Einwilligungsunfähigkeit laut Gesetz
“frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und persönliche Wertvorstellungen des Betreuten”. Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln.

Eine Behandlung unter Zwang geht also nur noch dann, wenn der Betroffene vor der akuten Erkrankung erkennen hat lassen, dass er diese Behandlung möchte. Es mag Ihnen absurd erscheinen, aber wir haben nun die Situation in Deutschland, dass eine Behandlung gegen den Willen nur möglich ist, wenn sie dem Willen entspricht.

Vielleicht brauchen wir solche Gegensätze und Widersprüchlichkeiten, um Fortschritte in der Psychiatrie zu erreichen.

Ich danke Ihnen, dass Sie zu dieser Versammlung kommen und für eine Psychiatrie ohne Zwang eintreten.

(Manuskript des Redebeitrages von Martin Zinkler bei der Protestveranstaltung gegen den WPA-Weltkongress am So 8.10.17 in Berlin)

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