• VielFalter - Magazin für Polyphonie

    40 Jahre sind genug – Lasst uns jetzt Zukunft gestalten!

    Rückblick auf ein Statement zum 40jährigen Jubiläum der Psychiatrie-Enquete , welches im Jahre 2015 in sozialpsychiatrischen Kreisen gefeiert wurde:

    40 Jahre sind genug – Lasst uns jetzt Zukunft gestalten!

    Allerorten wird gefeiert, jubiliert, sich erinnert und gegenseitig auf die Schulter geklopft. Vor 40 Jahren begann die Reform der Anstaltspsychiatrie und der Ausbau der Gemeindepsychiatrie. Es hat sich viel getan seither. Die klassischen Verwahr-Anstalten, in denen psychiatrische Patienten Jahre und Jahrzehnte ihres Lebens zubringen „durften“, sind Geschichte.
    40 Jahre Psychiatrie-Enquete heißt 40 Jahre Image-Pflege: Weg mit den großen Schlafsälen! Frische Farbe auf die Wände! Freundliche Fassade! Die Psychopharmaka sind heute vielleicht noch schädlicher als damals, doch die Wirkungen (euphemistisch: Nebenwirkungen) soind nicht mehr ganz so krass zu sehen. Die Patienten werden heute eher dick und krank, dafür sabbern sie weniger und wirken nicht mehr so verkrampft. Sie sind vorzeigbarer geworden. Wer die Gemeinde-psychiatrischen Zentren in die Herzen der Kommunen pflanzen will, tut gut daran, die Klientel nicht gar so abstossend aussehen zu lassen. Die Beeinträchtigungen im Fühlen und Denken sind auch mit den neuen „Medikamenten“ so massiv, dass Eigeninitiative, Begeisterungsfähigkeit und Elan nur bedingt zu befürchten sind. Mit Hilfe von Dauermedikation wird der Versorgungsbedarf auch langfristig gewährleistet.
    Statt von „Geisteskranken“ wird heute von „Menschen mit psychischen Erkrankungen“ gesprochen. Mehr Geld als jemals zuvor fließt in psychiatrische Hilfesysteme und deren Ableger. Arbeitsplätze wurden geschaffen. Kongresse und Tagungen werden durchgeführt. Die Ent-stigmatisierung der „psychischen Erkrankungen“ wird vorangetrieben. Die „Versorgung“ von Menschen mit psychiatrischer Diagnose wird ausgebaut. Mehr Menschen als je zuvor sind dauerhaft in geschlossenen Heimen untergebracht. Die Zahl der Zwangseinweisungen und -unterbringungen hat sich vervielfacht. Immer mehr Menschen bekommen immer mehr Psychopharmaka verordnet. Der Markt expandiert: (Gemeinde)psychiatrie ist ein Wahnsinns-Geschäft! In unzähligen Artikeln, Faltblättern und Broschüren wird uns eingeredet, wie erschreckend „der dramatische Anstieg seelischer Erkrankungen“ sei. Immer mehr Menschen seien in unserer heutigen leistungs- und wettbewerbsorientierten Welt gefährdet. „Psychidsch erkrankte Menschen“ könnten dem mit dieser Entwicklung verbundenen Wettbewerb oftmals nicht standhalten.
    Abgesehen davon, dass das Modell der „psychischen Erkrankungen“ wissenschaftlich fragwürdig und für die Betroffenen wenig hilfreich ist, sind diese Behauptungen schlichtweg falsch.
    Unwidersprochen bleibt, dass immer mehr Menschen psychiatrische Diagnosen erhalten, und daß immer mehr Menschen eingeredet wird, ihre persönlichen und sozialen Schwierigkeiten seien behandelbar oder gar „behandlungsbedürftig“. Zweifellos kann eine psychiatrische Diagnose gewisse Vorteile mit sich bringen. Mit einer Krankschreibung bin ich entschuldigt und darf der Arbeit ungestraft fernbleiben. Ich brauche meine Bedürfnisse der Erwerbs- und Profitmaschinerie nicht mehr unterzuordnen, scheint es. Als „Mensch mit psychischer Erkrankung“ bin ich draußen und grundversorgt und alles kann so weiterlaufen wie bisher.
    Dass die sogenannten „Psychischen Erkrankungen“ in den vergangenen Jahrzehnten keineswegs zugenommen haben, wurde bereits in verschiedenen Erhebungen und Langzeitstudien gezeigt. So wird die Zunahme der psychiatrischen Diagnosen und Behandlungen oft auch damit begründet, dass die „psychischen Erkrankungen“ inzwischen lediglich besser erkannt würden. Nur wenige Psychiater und psychiatrisch Beschäftigte sind bisher bereit, die vielbeschworene „Tatsache der psychischen Erkrankungen“ anzuzweifeln – bildet dieses Konstrukt doch in der Regel die Grundlage ihrer Arbeit und ihres Einkommens…
    Die Feststellung, immer mehr Menschen seien in unserer wachstums-, wettbewerbs- und leidstungsorientierten Welt gefährdet, verschleiert gekonnt die Beobachtung, dass Leistungs-, Wachstums- und Wettbewerbsorientierung weder den Menschen noch der Welt gut tun.

    „Es ist kein Zeichen seelischer Gesundheit, gut angepasst an eine kranke Gesellschaft zu sein“
    Jiddu Krishnamurti

    Wenn wir behaupten, dass „psychisch Erkrankte Menschen“ mit dieser Entwicklung nicht standhalten können, stellen wir diese Entwicklung als unpersönliche, von uns unbeeinflussbare Tatsache dar. Wer diesen zerstörerischen Irrsinn nicht mehr mitmachen kann oder will, wird als „psychisch krank“ oder auch als „von psychischer Erkrankung bedroht“ bezeichnet und gerät dadurch in Situationen, die zu „Erkrankungen“ oder „Behinderungen“ führen können. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz, deshalb möchte ich an dieser Stelle den Blick weg von der gemeindepsychiatrisch postuöierten und verbrämten Ausgangslage und hin auf die zu gestaltende Zukunft richten.
    Eine Zukunft, in der wir nicht mehr als „krank“ behandelt werden. Wir sehen ja heute zunehmend, wie Behandlungen nicht nur seelische und körperliche Behinderungen zur Folge haben sondern auch zu einer massiven Verkürzung unserer Lebenserwartung führen.
    Eine Zukunft, in der wir uns klimafreundlich verhalten, unsere Welt lebensfreundlich gestalten, in der wir unsere Kinder spielen lassen, statt sie in Unterricht zu zwingen.
    Eine Zukunft ohne den Druck die Rolle des psychisch Kranken oder des professionellen Helfers einnehmen zu müssen, da unser Lebensunterhalt durch ein Bedingungsloses Grundeinkommen gesichert ist.
    Eine Zukunft, in der wir unsere Bedürfnisse und die Bedürfnisse unserer Mitwelt achten und in der unser Zusammenleben entsprechend organisieren. Das heißt:
    Wir wenden uns von bisherigen Prämissen ab und verabschieden uns von überkommenen Kategorien. Wir nehmen und lassen uns Zeit. Wir übernehmen Verantwortung für unser Denken, unser Tun und unser Lassen. Wo auch immer wir sind: Wir wenden unseren Blick nicht ab.
    Wir erkennen die Krise, nutzen die Chance und beginnen zu Handeln – frei nach dem Motto:
    Lieber lebendig als normal!

    Mirko Ološtiak-Brahms

    Sendung vom 26. Januar 2017

    Heute mit dem Aufruf, eigene Erfahrungen und Gedanken zum Thema \“Psychose als Selbstfindung\“ niederzuschreiben, einigen Infos zu Dorothea Buck, einem Erfahrungsbericht einer Psychiatrie-Erfahrenen, einem weiteren kurzen Text über Erfahrungen mit \“Psychose\“ und mit jeder Menge Musik – wie immer GEMA-frei.

    Ich wünsche allen Hörer*innen ein gutes, erfolgreiches und krisenfreies Jahr 2017!
    Herzlichen Dank für die vielfältige Unterstützung, durch die diese Sendung weiterhin möglich bleibt!

    Aufruf: \“Psychose als Selbst-Findung\“ 100 Stimmen zu Dorothea Bucks 100. Geburtstag

    Psychose als Selbst-Findung – 100 Stimmen zu Dorothea Bucks 100. Geburtstag

    Dorothea Buck ist nun einhundert Jahre alt. Die einstige Mit-Gründerin des Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener genießt hohe Anerkennung nicht zuletzt auch seitens der psychiatrischen Elite. Dabei wird ihre Lebensgeschichte allzu leicht reduziert auf ihre Rolle als Überlebende des Nationalsozialismus, und die fortdauernd provokative Botschaft ihrer Lebensgeschichte gerät aus dem Blick. „Psychose als Selbst-Findung“ lautet nämlich der Untertitel ihres berühmten Erinnerungs-Buches „Auf der Spur des Morgensterns“. Ausgerechnet eine Frau, die Psychiatriepatientin in der Nazizeit war, und die der so genannten „Euthanasie“ eher zufällig entkam, schreibt in ihrer Rückschau, sie sei froh, nicht in späteren Jahrzehnten in die Psychiatrie gekommen zu sein, denn Neuroleptika hätten dann ihre Erfahrung von „Psychose als Selbst-Findung“ verhindert.

    Lernen aus der Vergangenheit hat damit zu tun, das Unbequeme anzunehmen und sich hinterfragen zu lassen. Trotz Verdienstkreuzen und Festredner-Status wird das Unbequeme an Dorothea Bucks Botschaft aber nach wie vor weithin ausgeblendet: Psychose als Selbst-Findung ist inkompatibel mit Versorgungs- und Behandlungsmodellen, die auf Symptomunterdrückung abzielen und so die Erfahrung verhindern, dass Psychose zur Selbst-Findung werden kann. Dorothea Bucks Erinnerungen sind aber auch ein starkes Argument gegen die gängige Denunziation des Anspruchs auf „Psychose als Selbst-Findung“ als ein vermeintlich naives und verharmlosendes Streben romantisierender Anti-Psychiater.

    Berühmte Denker erhalten Festschriften zu ihren Geburtstagen. Dorothea Buck ist schon längst berühmt, aber als originelle Denkerin ist sie wohl erst noch richtig zu entdecken. Wir möchten sie mit einhundert Erfahrungsberichten oder Statements ehren. Damit wollen wir der Bedeutung ihres Bekenntnisses zur „Psychose als Selbst-Findung“ Nachdruck verleihen.

    Jede*r, der für sich Erfahrungen mit „Psychose als Selbst-Findung“ – im weitesten Sinne und aus verschiedenen möglichen Positionen – gemacht hat, ist eingeladen, beizutragen. Wichtig ist jedoch, dass die persönliche Perspektive kenntlich ist, dass es um eigene Erfahrungen geht und nicht darum, Erfahrungen Dritter zu erklären oder zu bewerten. Damit die 100 Stimmen auch gehört bzw. gelesen werden, wollen wir um kurze Beiträge bitten. Wir denken an 100 Berichte, die je eine Seite lang sind.

    Die Idee entstand relativ kurzfristig, bitte meldet Euch bald, wenn Ihr mitmachen möchtet. Die Weitergabe dieses Aufrufs ist absolut erwünscht! Zum Geburtstag erhielt Dorothea eine erste, vorläufuge Fassung dieser Stimmen-Sammlung mit knapp 60 Beiträgen. Wir wollen weitersammeln, bis wir mindestens 100 Beiträge beisammen haben. Es ist nur eine Seite (maximal 4.000 Zeichen mit Leerzeichen), aber mit ihr habt Ihr Stimme! Wir haben auch sehr viel kürzere Texte erhalten, die oft nicht weniger Ausstrahlungskraft haben als längere. Möglich sind auch Zeichnungen, Fotos und Bilder zum Thema. Also, traut Euch und greift möglichst jetzt zum Stift. So können wir zeigen, wie vielschichtig Dorotheas Botschaft ist.

    Die Idee zu dieser Fest- und Feierschrift entstand, als Elena Mirkos Beitrag auf einem Trialog-Forum hörte. Der Gedanke, wie Dorothea Bucks 100. Geburtstag wohl öffentlich begangen werden wird, stand schon länger im Raum. Das persönliche Wiedererkennen der Erfahrung von „Psychose als Selbst-Findung“ auch in Mirkos Worten mündete dann in dieser Idee. Wir hoffen, es gibt auch für Euch ein Wiedererkennen unter diesem Stichwort, und Ihr habt Lust, mitzumachen. Meldet euch baldmöglichst per Mail, Post oder Telefon – die Adressen und Nummern findet ihr unten in der pdf-Datei.

    Selbstverständlich könnt Ihr Eure Beiträge auch unter einem Pseudonym oder anonym beisteuern.

    Sendung vom 29. Dezember 2016

    Zum Jahresende ist ein wenig die Luft raus – deshalb diesmal eine Sendung nur mit Musik.

    Allen unseren Hörer*innen wünsche ich einen guten Rutsch und ein Gesundes, Glückliches und Kraftvolles Jahr 2017!

    Alle Freund*innen dieser Sendung bitte ich zum Neuen Jahr um Anerkennung und Unterstützung meiner Arbeit – z.B. via https://www.paypal.me/VielFalter

    Hinweisen möchte ich hier noch auf die geplante Demonstration gegen den Weltkongress der Psychiater am 8. Oktober 2017 und den Plakatwettbewerb des BPE:

    Vom 8. bis 12. Oktober 2017 tagt in Berlin die World Psychiatric Association (WPA). Das ist eine internationale Organisation von Psychiatern, die sich auf die Fahnen geschrieben hat, ihren Einflussbereich weltweit auszudehnen. Sie haben das Ziel, überall menschliches Verhalten und menschliche Lebensäußerungen in „gesund“ und „krank“ zu unterteilen und die von ihnen erfundenen und diagnostizierten „Krankheiten“ zu behandeln – oftmals ohne die Zustimmung oder gar gegen den Willen ihrer Patienten.
    Die WPA steht für die Pathologisierung abweichenden Verhaltens, für Chronifizierung von Leidenszuständen durch Dauermedikation, für Hirnverstümmelungen, Elektroschock und für korrupte Allianzen mit Big Pharma. Im Namen von Normalität und „seelischer Gesundheit“ werden immer mehr Menschen mit krank und abhängig machenden, Lebenszeit verkürzenden und hirnschädigenden Psychopharmaka behandelt. Eine Behandlung, die nachweislich zu Chronifizierung genau jener Leiden führt, gegen die sie angeblich helfen soll. Ein Riesen-Geschäft für Behandler und Industrie. In der psychiatrischen Propaganda, den Hochglanzbroschüren und Werbefilmchen der Industrie und in Artikeln, die regelmäßig in den Medien platziert werden, erfahren wir nichts von den Hunderttausenden Toten weltweit in Folge psychiatrischer Behandlung.
    Es gibt viele Gründe gegen Psychiatrie und gegen diesen Kongress zu protestieren. Wir rufen für das Jahr 2017 auf zu fantasievollen Aktionen, mit denen auf die dunklen Seiten des psychiatrischen Geschäfts aufmerksam gemacht werden soll. Wir rufen auf zu einer Demonstration für die Einhaltung der UN-BRK und zu einer großen Demonstration gegen die WPA, am 8. Oktober 2017, dem Tag der Eröffnung des psychiatrischen Weltkongresses in Berlin.

    Schickt uns Eure Plakatentwürfe für die Mobilisierung gegen den WPA-Weltkongress 2017! Im Februar 2017 werden wir unter den Einsendungen das beste Plakat (oder die besten Plakate) auswählen. Die Gewinner und Gewinnerinnen erhalten 100 Euro und erlauben uns, das oder die Plakate zu drucken und für Kampagnen zu verwenden.
    Sendet Eure Entwürfe und Vorschläge bis 15. Februar an den BPE, Wittener Str. 87, 44789 Bochum

    http://bpe-online.de/verband/rundbrief/2016/4-16.pdf#page=3