Peter & Sabine Ansari haben gemeinsam das Buch \“Unglück auf Rezept – Die Antidepressiva-Lüge und ihre Folgen\“ geschrieben und betreiben seit einer geraumen Weile den Blog depression-heute.de
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\“Der Sinn meiner Psychose\“ – Interview mit Herausgeber Hartwig Hansen
Dorothea Buck hatte mir in einem unserer Telefonate ans Herz gelegt, mir das Buch \“Der Sinn meiner Psychose – Zwanzig Frauen und Männer berichten\“ zu kommen zu lassen. Auch ich kann empfehlen, dieses Buch zu lesen und sich über die Inhalte der zwanzig Erfahrungsberichte auszutauschen. In der Sendung vom 25. August 2016 gab es nun einige Ausschnitte aus diesem Buch zu hören. Zuvor habe ich jedoch noch ein Gespräch mit dem Herausgeber dieses Buches, Hartwig Hansen, geführt.
Das Buch \“Der Sinn meiner Psychose – Zwanzig Frauen und Männer berichten\“ ist 2013 im Paranus-Verlag erschienen, umfasst 200 Seiten und kostet 19,95 Euro.
\’Hilfe\‘, \’Schutz\‘ und \’Anti-Stigma\‘ – Propaganda und \’Neusprech\‘ in der Psychiatrie (Teil 1)
Anstaltspsychiatrie, Zwangsjacken oder Elektroschock sind Begriffe, die einer dunklen, scheinbar überwundenen Vergangenheit der Psychiatrie zugeschrieben werden. Dass der Elektroschock unter der Bezeichnung EKT (Elektrokrampftherapie) seit einigen Jahren zunehmend wieder eingesetzt wird, dass die Zwangsjacken lediglich durch die Verabreichung von Psychopharmaka abgelöst wurden und dass Zwangsmaßnahmen und -Behandlungen weiterhin an der Tagesordnung sind, ist vielen Menschen nicht bewußt. Vor 40 Jahren sollte mit der Psychiatrie-Enquete eine „tiefgreifende Reform der Psychiatrie“ auf den Weg gebracht werden – an den fragwürdigen Grundlagen des psychiatrischen Menschenbildes hat sich jedoch wenig geändert. Das Konzept der „psychischen Erkrankungen“ wird kaum hinterfragt. Dabei werden immer mehr Menschen psychiatrisch behandelt. Die Zahl der Krankschreibungen und Früh-Berentungen aufgrund psychiatrischer Diagnosen und auch die Verschreibung von Psychopharmaka haben Rekordniveau erreicht. Im Geschäft mit der Psyche werden Milliardenumsätze erzielt. Worüber jedoch kaum jemand spricht: Über 10.000 Menschen kommen jährlich allein in Deutschland im Zusammenhang mit psychiatrischer Behandlung ums Leben. Die Langzeitbehandlung mit Neuroleptika (im psychiatrischen Neusprech auch „Antipsychotika“ genannt) führt zu einer Verkürzung der Lebenserwartung um durschnittlich 25 bis 32 Jahre. Zunehmend werden auch Kinder und Jugendliche zu psychiatrischen Patienten – häufig wegen Problemen, die im Zusammenhang mit der Schule entstehen.
Unsere Sprache bestimmt unser Denken. Die Begriffe, die wir verwenden, beeinflussen unsere Einstellung und unsere Gefühle. Es macht einen Unterschied, wie wir die Dinge bezeichnen. Und es ist kein Zufall, dass sich viele Namen und Bezeichnungen in den vergangenen Jahren (zum Teil mehrfach hintereinander) geändert haben. Halt! Die Namen haben sich nicht von alleine geändert – sie wurden geändert. Raider heißt jetzt Twix. Das Arbeitsamt ist von der Agentur für Arbeit zum Jobcenter mutiert. Meine Krankenkasse nennt sich jetzt Gesundheitskasse. So sollen Akzeptanz hergestellt und positive Assoziationen hervorgerufen werden. Das kleine Wörtchen ‚für‘ kann sehr wirkungsvoll sein für solche Zwecke.
Die ehemaligen Nervenheilanstalten heißen inzwischen „Zentren für Psychiatrie“ – oder noch besser: „Zentren für Seelische Gesundheit“. Statt auf der Geschlossenen finden wir uns im „geschützten Bereich“ wieder. Dort wird uns „die notwendige Hilfe nicht vorenthalten“. Das klingt zumindest viel angenehmer, als von „einsperren“ und „isolieren“ zu sprechen, von „Zwangsbehandeln“ oder vom Brechen des Willens. Was in der Psychiatrie mit „Schutz“ und „Hilfe“ bezeichnet wird, könnten wir aus anderer Perspektive auch „Freiheitsberaubung“ und „Folter“(2) nennen. Wir werden ans Bett gefesselt und es werden uns mit Gewalt Substanzen verabreicht, die massive Störungen (nicht nur) im Gehirn verursachen. Natürlich nur zu unserem „Wohl“ und weil wir „krankheitsbedingt“ nicht in der Lage seien, in die „notwendige Behandlung“ einzuwilligen. Wie fragwürdig die Konzepte der psychiatrischen „Erkrankungen“ und deren Behandlung sind, steht auf einem anderen Blatt. Immerhin: wir werden nicht mehr als „Geisteskranke“ bezeichnet. Inzwischen werden wir mit dem Label „Psychisch Kranke“ bedacht, das in jüngerer Zeit zunehmend durch den Begriff „Menschen mit psychischen Erkrankungen“ ersetzt wird. Das klingt zwar schon viel menschlicher, verschleiert aber den Umstand, dass diese sogenannten „Erkrankungen“ keine beweisbaren Tatsachen sondern lediglich willkürliche Zuschreibungen sind.(3) Den Mangel an Beweisen machen die Meinungsbildner in der Psychiatrie wett durch in sich verschachtelte Konstrukte aus Behauptungen und Zirkelschlüssen gepaart mit ausgefeilter Rhetorik. Der „Mythos Geisteskrankheit“(4) wird uns tagtäglich quer durch sämtliche Medien als Tatsachenbehauptung untergejubelt. Wir haben uns gewöhnt an die Propaganda. An die Lügen und Halbwahrheiten, an das Verschweigen und Vorenthalten von Information. Manche Märchen werden so oft wiederholt, dass es aussichtslos erscheint, jedes mal von Neuem auf Richtigstellung zu pochen. Die Medienvertreter*innen sind auch nur zu gerne bereit, zu glauben, was sogenannte Fachleute ihnen einreden. Wir wissen, dass es um Geld geht. Um sehr viel Geld. Die Pharma-Industrie macht Milliardenumsätze mit Psychopharmaka. Wir wissen auch, dass z.B. die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und auch viele ihrer Mitglieder mehr als dankbar sind für die finanziellen Zuwendungen, die sie von der Industrie erhalten. Sehr ärgerlich ist jedoch, dass für die Finanzierung der Propagandakampagnen der DGPPN das Bundesministerium für Gesundheit aufkommt. Und dass sich über 80 Organisationen dafür hergeben diese Kampagnen mit ihrem Namen mitzutragen. Folgende Sätze lesen sich wie ein geschickt formulierter Werbetext, den eine PR-Agentur im Auftrag von Pharma-Unternehmen verfasst haben könnte:Tatsächlich stammt dieser Text vom „Aktionsbündnis Seelische Gesundheit“, das vor 10 Jahren „von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) gemeinsam mit Open the doors als Partner des internationalen Antistigma-Programms“ initiiert wurde, wie auf der Startseite zu lesen ist. Die Unterseite „fairmedia“ gibt Journalist*innen Empfehlungen, wie „ein angemessenes Bild von Menschen mit psychischen Erkrankungen in den Medien“ entstehen soll. Für die Gestaltung der Seiten ist – wen wundert´s – eine Werbefirma aus Berlin verantwortlich.
Unverantwortlich ist allerdings der Inhalt (nicht nur) dieser hier zitierten Behauptungen. Es ist wahr, dass Psychopharmaka aufs Gehirn, aufs Fühlen, Erleben und Handeln wirken. Die Wirkung beschränkt sich jedoch nicht aufs Gehirn. Je nach Substanz müssen wir mit massiven körperlichen ‚Neben‘-Wirkungen rechnen. Ob Gewichtszunahme, Diabetes, Libidoverlust und Impotenz, Blutbildveränderungen, Herz- und Kreislaufprobleme, Bewegungsstörungen oder gar plötzlicher Tod: die Liste unerwünschter Wirkungen ist lang. Seit Jahren ist bekannt, dass Konsumenten von Neuroleptika bei Langzeiteinnahme mit einer Verkürzung der Lebenserwartung um 25 bis 32 Jahre rechnen müssen.(5) Die Wirkung von Psychopharmaka aufs Gehirn, aufs Fühlen, Erleben und Handeln lässt sich im Einzelfall auch kaum vorhersagen. Immerhin handelt es sich um Stoffe, die die Hirnchemie verändern und dadurch in die Persönlichkeit eingreifen. Jedes Gehirn ist anders, und welche Substanz in welcher Dosierung welche Effekte hat, wird von Person zu Person neu durchprobiert. Die Behauptung, dass die Persönlichkeit unverändert bliebe, trotz erheblicher Veränderung von Erleben, Fühlen und Handeln, lässt sich meines Wissens nicht belegen. Wer jedoch in Fachliteratur und Studien nach persönlichkeitsverändernden Wirkungen sowohl von Antidepressiva als auch insbesondere von Neuroleptika sucht, kann an vielen Stellen fündig werden(6). Psychopharmaka werden in der Tat eingesetzt um Symptome zu bekämpfen. Wie erfolgreich diese Symptombehandlung im Einzelfall ist, lässt sich nicht vorhersagen. Studien mit Antidepressiva vom Typ SSRI haben zum Beispiel gezeigt, dass diese Mittel sich in der Wirksamkeit kaum von Placebos unterscheiden.(7) Im Gegensatz zu Placebos muss mit einer ausgeprägten Absetzsymptomatik gerechnet werden, wenn die Einnahme dieser Mittel beendet wird. Die These, psychische Ausnahmezustände („Störungen“, „Erkrankungen“) seien auf ein Ungleichgewicht der Botenstoffe im Gehirn zurückzuführen, nutzt vor allem denen, die daran verdienen. Weder der Überschuss noch der Mangel an Botenstoffen lässt sich als Ursache von Störungen nachweisen. Bezeichnend ist, dass vor allem jene Behandlungsformen nachhaltige Ergebnisse erzielen, die ohne oder mit möglichst wenig Psychopharmaka-Einsatz auskommen.
Die dreisteste Lüge ist hier jedoch die Behauptung, dass Psychopharmaka nicht abhängig machen. „Jedes Psychopharmakon kann Entzugssymptome produzieren. Dies geschieht zum Teil, weil das Gehirn sich an das Psychopharmakon anpasst und es in einem abnormal kompensierten Zustand zurückgelassen wird, wenn die Dosis eines Medikaments reduziert wird oder das Medikament abgesetzt wird.“ schreibt der amerikanische Psychiater Peter Breggin(8). Ist es nicht naheliegend, von Abhängigkeit zu sprechen, wenn wir davon ausgehen müssen, dass beim Absetzen einer Substanz Probleme auftreten, die zuvor nicht vorhanden waren? Die Verharmloser*innen der Psychopharmaka können natürlich einwenden, dass bei einem Großteil der sogenannten Medikamente nicht sämtliche Kriterien der WHO-Definition von „Abhängigkeit“ zutreffen, und dass vor diesem Hintergrund die Behauptung „die meisten Medikamente machen auch nach jahre- oder jahrzehntelanger Einnahme nicht abhängig“ zwar irreführend und missverständlich ist, jedoch nicht als Lüge gewertet werden sollte. Der Vollständigkeit halber sollten wir dann aber auch anfügen, dass die WHO-Definition von Abhängigkeit im Jahre 1987 den Erfordernissen des Marktes angepasst wurde – in Zeiten in denen die Genehmigungsverfahren für die neuen SSRI von der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) bearbeitet wurden. Was sollen all diejenigen dazu sagen, die mit ansehen müssen, oder gar am eigenen Leib erleben, welche Probleme das Absetzen von Psychopharmaka auslösen kann und mit welchen Auswirkungen das verbunden ist? Wer warnt verantwortungsvolle Journalist*innen davor, bei dieser Werbekampagne gegen die „Stigmatisierung von Medikamenten“ unhinterfragt abzuschreiben?(9)
Wir müssen lernen, die Behauptungen zu hinterfragen, die uns von denjenigen, die an Behandlung und Hilfe verdienen, als angeblich sachliche Informationen aufgetischt werden. In einer wirklich „fairen“ Diskussion müssen auch die unbequemen Tatsachen offen zur Sprache kommen. Risiken und (Neben-)Wirkungen dürfen nicht weiter verharmlost werden. Mögliche Schäden müssen dem erhofften Nutzen gegenübergestellt werden. Als Patienten und Angehörige, aber auch als interessierte Öffentlichkeit, haben wir das Recht auf ungeschönte Information. Wir haben das Recht auf informierte Entscheidung und wollen die Entscheidungen über unsere Gesundheit, unsere Zukunft und unser Leben nicht nur auf Halbwahrheiten und Werbelügen stützen.Mirko Ološtiak, Februar 2016
(1) Der Ausdruck Neusprech (englisch: Newspeak) stammt aus dem Roman 1984 von George Orwell und bezeichnet eine Sprache, die aus politischen Gründen künstlich modifiziert wurde.
(…) Neusprech bezeichnet die vom herrschenden Regime vorgeschriebene, künstlich veränderte Sprache. Das Ziel dieser Sprachpolitik ist es, die Anzahl und das Bedeutungsspektrum der Wörter zu verringern, um die Kommunikation des Volkes in enge, kontrollierte Bahnen zu lenken… (Wikipedia)(2) siehe Alice Halmi, http://www.irrenoffensive.de/foltersystem.htm
(3) Neben der Bezeichnung „Psychiatrie-Erfahrene“ könnten wir hier vielleicht noch von „Menschen mit psychiatrischen Diagnosen“ sprechen – wenn denn überhaupt ein Begriff nötig sein sollte, um Menschen zu benennen, die das psychiatrische „Versorgungs-“-System in Anspruch nehmen oder diesem ausgesetzt sind.
(4) Thomas S. Szasz, 1960 – http://www.szasz-texte.de/texte/mythos-geisteskrankheit.html
(5) siehe z.B.: http://www.bpe-online.de/verband/rundbrief/2007/3/aderhold.htm
(6) siehe z.B.: http://www.praxis-dr-shaw.de/blog/kann-die-behandlung-von-depressionen-mit-antidepressiva-zu-personlichkeitsveranderungen-fuhren/
(7) siehe auch:
http://patientensicht.ch/artikel/irving-kirsch-moderne-antidepressiva-sind-super-placebos(8) Breggin, Peter R. (2013):Psychiatric Drug Withdrawal – A guide for prescribers, therapists, patients, and their families.New York:Springer Publishing Company
(9) http://fairmedia.seelischegesundheit.net/dossiers: „Der Themendienst ist Teil des Informationsdienstes des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit, in dem wir aktuelle Informationen aus dem Bereich der seelischen Gesundheit redaktionell zusammenstellen. Die Texte können Sie gerne übernehmen. Wenn Sie selber etwas zum Thema machen möchten: Bei den aufgelisteten Initiativen und Verbänden bekommen Sie Informationen aus erster Hand – von Betroffenen, Angehörigen oder Fachleuten. Möglich wird dieser Redaktionsdienst durch die Unterstützung des Bundesministeriums für Gesundheit.“
Stellungnahme der DGSP zum Pharma-(Werbe-)Dossier der „fairmedia“-Kampagne: http://www.dgsp-ev.de/fileadmin/user_files/dgsp/pdfs/Stellungnahmen/Stellungn._ASG_Prof._Gaebel.pdf“\’Hilfe\‘, \’Schutz\‘ und \’Anti-Stigma\‘ – Propaganda und \’Neusprech\‘ in der Psychiatrie (Teil 2)
Trotz stetig steigendem Konsum von Psychopharmaka, kontinuierlicher Zunahme von Krankschreibungen und Berentungen aufgrund psychiatrischer Diagnose, und der Tatsache, dass immer Menschen in dauerhafter Abhängigkeit vom Versorgungssystem leben, wird uns eingeredet, Psychiatrie sei gut und hilfreich für die Menschen. Im Rahmen von Anti-Stigma-Kampagnen soll uns die Scheu vor psychiatrischer Diagnose und Behandlung genommen werden. Wieder und wieder werden wir mit Zahlen konfrontiert, laut denen jeder Dritte im Laufe seines Lebens \“psychisch erkrankt\“. Dass nur ein Bruchteil dieser Menschen psychiatrische Behandlung erhält, wird uns gar als Mißstand dargestellt. Vordergründig scheinen die Anti-Stigma-Kampagnen das Ziel zu haben, Vorurteile abzubauen und die \“Menschen mit psychischen Erkrankungen\“ besser in die Gesellschaft zu integrieren. In dieser Hinsicht sind solche Kampagnen jedoch relativ wirkungslos. Wir können allerdings beobachten, dass diese Kampagnen sehr wohl eine Wirkung haben. Ähnlich wie bei der Psycho-Edukation geht es nämlich vor allem darum, das Modell der \“psychischen Erkrankungen\“ fest in unseren Köpfen zu verankern. So sprechen Psychiater auch gerne von der \“Entstigmatisierung der psychischen Erkrankungen\“. Die Fokussierung auf biologische Ursachen seelischer Ausnahme- und Leidenszustände und deren Propagierung als \“Krankheiten\“ führt in der Bevölkerung jedoch zu einer stärkeren Ablehnung der Betroffenen. Das betrifft insbesondere die Menschen, denen der Stempel \“Schizophrenie\“ aufgedrückt wurde. Eine Arbeitsgruppe um Georg Schomerus von der Universitätsmedizin Greifswald kam 2014 zu diesem Ergebnis. Die Furcht vor den Betroffenen nahm zu, während positive Reaktionen wie Mitleid und Hilfsbereitschaft abnahmen. \“Vor allem aber stieg das Bedürfnis nach sozialer Distanz deutlich: Während es 1990 20 Prozent ablehnten, mit einer an Schizophrenie erkrankten Person zusammenzuarbeiten, waren es 2011 schon 31 Prozent.\“ schreibt das Ärzteblatt in einem Bericht1. Der Anteil derjenigen, die es ablehnten, jemanden mit \“Schizophrenie\“ einem Freund vorzustellen, sei in diesem Zeitraum von 39 auf 53 Prozent gestiegen. Dies geht einher mit der Zunahme von biologischen und der Abnahme von psychosozialen Ursachenvorstellungen. „Aufklärung und Wissen ändern offenbar nichts am Problem der Stigmatisierung. Bei der Schizophrenie gibt es sogar Hinweise, dass eine einseitige Betonung biologischer Prozesse bei der Darstellung dieser Krankheit in den Medien oder durch Wissenschaftler den Betroffenen schadet. Wir konnten zeigen, dass durch ein rein biologisches Krankheitsverständnis eine vermeintliche Andersartigkeit der Betroffenen betont wird und dadurch die Ablehnung steigt“ wird die Arbeitsgruppe aus Greifswald zitiert. Dass die Öffentlichkeit mehr über „psychische Krankheiten“ weiß und einer psychiatrischen Behandlung gegenüber aufgeschlossener ist, wertet Studienleiter Georg Schomerus als positive Entwicklung2. Diese Entwicklung führt jedoch dazu, dass sich immer mehr Menschen in Behandlung begeben und sich eine \“psychische Erkrankung\“ diagnostizieren lassen3. Wem das nützt und wer davon dann profitiert, steht auf einem anderen Blatt… Wenig beachtet wird darüber hinaus, dass Psychiater keinesfalls frei sind von negativen Einstellungen gegenüber den Menschen, welche sie diagnostizieren. Eine Aufklärung der Bevölkerung durch Psychiater kann nicht mehr \“Wissen\“ vermitteln, als Psychiater selbst haben. \“Selbst wenn Antistigmakampagnen es also schaffen würden, die gesamte Bevölkerung so umfassend aufzuklären, dass alle den Wissensstand psychiatrischer Fachärzte erreichen, wären Stigma und soziale Diskriminierung von psychisch Kranken nicht ausgeräumt, sondern in manchen Aspekten vielleicht sogar verstärkt\“, schrieb Stefan Priebe 2005 in der Zeitschrift \“Psychiatrische Praxis\“4. Er weist darauf hin, dass ein Teil der Kampagnen von der Pharmaindustrie finanziert wird, und fragt: \“Geht es hier vielleicht eher darum, dass möglichst vielen Menschen verständlich gemacht wird, sie sollten Pharmaka zur Behandlung ihrer psychischen Störungen einnehmen, als um eine Überwindung von Stigma zur Förderung der sozialen Integration?\“
Wir sehen also, dass die biologische und pathologisierende Sicht auf psychische Probleme nicht nur den Fokus auf pharmakologische Behandlung lenkt, sondern auch zu verstärkter Stigmatisierung führt. Meiner Meinung nach fußt dieses Übel auf der als Tatsache behaupteten Annahme, dass Geisteskrankheit – oder \“psychische Erkrankung\“ – real existiert und nicht lediglich eine Zuschreibung durch die Gesellschaft ist. Abweichendes und störendes Verhalten oder auch psychische Probleme sozialer Natur werden mit dem Stigma \“psychisch krank\“ belegt. Mit der viel gerühmten Psychiatrie-Enquete und den Reformen, die ihr folgten, konnte die moderne Psychiatrie ihren Durchbruch feiern: Vor gut 40 Jahren wurde dort die Gleichstellung von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen mit körperlich Kranken festgeschrieben. Das Erscheinungsbild der Psychiatrie wurde äußerlich dem der Medizin angepasst und es wurde der Möglichkeit Rechnung getragen, Psychopharmaka ambulant zu verabreichen5. Vor diesem Hintergrund bekommt der Slogan \“ambulant vor stationär\“ einen fiesen Beigeschmack. Schon gut zehn Jahre nach der Enquete konnte festgestellt werden, dass mit dem Ausbau der gemeindenahen Psychiatrie auch die Zahl der Zwangseinweisungen anstieg. Dieser Trend hat sich bis heute nahezu ungebrochen fortgesetzt. Der Schutz der Menschen- und Bürgerrechte von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen steht nicht auf der Agenda der Psychiatrie6. Das angebliche \“Recht auf Behandlung\“ wird oftmals über die Grundrechte gestellt und dann auch durchgesetzt – immer wieder ohne Zustimmung der Patienten oder gar gegen deren Willen. Wenn die Bekämpfung einer angeblichen Krankheit im Vordergrund steht, tritt die Person in den Hintergrund, der diese Krankheit zugeschrieben wird. Das biologistische Dogma der \“psychischen Krankheiten\“ führt weiterhin zu Zwang und Gewalt, zu Erpressung und Lügen. Belogen werden nicht nur die Patienten und ihre Angehörigen, belogen werden wir alle.
In George Orwells Roman „1984“ wird die Bevölkerung nicht nur durch allgegenwärtige Überwachung kontrolliert, sondern vor allem durch Propaganda, gezielte Veränderung der Sprache und Gedankenverbote. Die drei Wahlsprüche der Partei sind allgegenwärtig: „Krieg ist Frieden“ , „Freiheit ist Sklaverei“ , „Unwissenheit ist Stärke“. Diese „Wahrheiten“ dürfen nicht hinterfragt oder in Frage gestellt werden. Eine Diskussion hierüber ist nicht möglich. Auch die Psychiatrie beeinflusst unser Denken durch Behauptungen, die zwar durch nichts bewiesen und die oft sogar offensichtlich falsch sind, die uns aber aufgrund ständiger Wiederholung als allgemeingültige Wahrheiten präsent sind. Die angebliche „Tatsache der psychischen Krankheiten“ ist die Prämisse, auf die sich die anderen Wahlsprüche stützen, die wir tagtäglich zu hören und zu lesen bekommen. „Depression ist eine ernstzunehmende Krankheit“ , „Psychosen sind behandlungsbedürftig“, „Psychopharmaka machen nicht abhängig“, „psychische Krankheiten sind behandelbar -je früher desto besser“ sind nur einige dieser Behauptungen. Ganz prominent sind auch die „Störungen im Hirnstoffwechsel“ und das „Ungleichgewicht der Botenstoffe“ die als Begründung für die „Notwendigkeit medikamentöser Behandlung“ angeführt werden. Im Unterschied zu Orwells Dystopie sind abweichende Meinungen und Äußerungen in unserer Welt nicht verboten. Sie werden im öffentlichen Diskurs allenfalls ignoriert und stehen somit einfach nicht zur Debatte. Dennoch sollten wir nicht müde werden, die herrschende Lehrmeinung in Frage zu stellen und den pathologisierenden Blick auf das Aussergewöhnliche anzuzweifeln. Dabei geht es nicht darum gehen, Recht zu haben oder neue Dogmen zu erschaffen, sondern vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen neue Wege zu erschließen.
Mirko Ološtiak, August 2016
1 http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/57914
2 https://idw-online.de/de/news576908
3 http://www.sueddeutsche.de/muenchen/dachau/dachau-wir-entscheiden-nicht-mehr-von-oben-herabueber-den-patienten-1.3085967
4 http://webspace.qmul.ac.uk/spriebe/publications/pub%20by%20year/2005/2005%20-%20Pro%20und%20Kontra%20Machen%20Antistigmakampagnen%20Sinn.%20For%20and%20Against%20Do%20Anti-Stigma%20Campaitns%20Make%20Sense.%20Psychiat%20Prax%2032%20218-220%20REAL%20PDF.pdf
5 http://www.antipsychiatrieverlag.de/artikel/reform/pdf/lehmann-40-jahre-enquete.pdf
6 http://www.antipsychiatrieverlag.de/artikel/recht/pdf/lehmann-enquete-apk.pdfSendung vom 28. Juli 2016 – Interview mit Dr. Volkmar Aderhold
Heute mit Dr. Volkmar Aderhold, der in Deutschland nicht nur die Debatte über Schäden und verkürzte Lebenserwartung durch Neuroleptika angestoßen hat, sondern hierzulande auch durch Seminare, Fortbildungen und Vorträge die Konzepte \“Bedürfnisangepasste Behandlung\“ und \“Offener Dialog\“ voranbringen will.
(siehe auch den Beitrag vom Frühjahr 2008: Gespräch mit Dr. Volkmar Aderhold)
Das Transkript des Interviews steht unter vielfalter.podspot.de/files/Transkript-VielFalter-Interview-Aderhold.pdf zum herunterladen bereit.
Musikalisch wird diese Sendung übrigens durch Superdirt und Manana Me Chanto bereichert…