• VielFalter - Magazin für Polyphonie

    Redebeitrag von Martin Zinkler bei der Protestveranstaltung gegen den WPA-Weltkongress in Berlin

    Für eine Psychiatrie ohne Zwang

    Herzlichen Dank, liebe Frau Fricke für die Einladung zu dieser Veranstaltung. Es hat mich verwundert, hier als Psychiater zu Wort zu kommen, steht doch die Psychiatrie für ein System, in dem weltweit Millionen von Menschen diskriminiert, bevormundet, eingesperrt, unter Anwendung von Gewalt behandelt werden und viele Jahre früher als nötig zu Tode kommen.

    Die UN Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen wurde 2008 vom Deutschen Bundestag ratifiziert. Damit wurde zunächst einmal anerkannt, dass es diese Konvention braucht, weil Menschen mit psychischen Erkrankungen tagtäglich in ihren Rechten eingeschränkt und bei der Ausübung ihrer Rechte behindert werden.

    Zentrales Anliegen der Konvention ist das Recht von Menschen mit Behinderung auf Unterstützung, um ihre Rechte wahrzunehmen und durchzusetzen. Dazu gehört das Recht auf Leben, auf Gesundheit und auf gleiche Anerkennung vor dem Recht.

    Menschen mit psychischen Behinderungen sterben aber in Deutschland und vielen anderen Ländern früher als Menschen ohne psychische Behinderungen, sie haben mehr und häufigere gesundheitliche Probleme und ihnen wird bei sogenannter Einwilligungsunfähigkeit des Recht vorenthalten, über ihre Gesundheit selbst zu entscheiden.

    Eigentlich wäre es die Aufgabe der Psychiatrie, genau die Unterstützung zu leisten, die von der Konvention gefordert wird. Dazu gibt es positive Ansätze, etwa beim Zugang zur Psychotherapie oder beim persönlichen Budget. Allerdings gibt es viel mehr Bereiche, in denen die Psychiatrie dieser Aufgabe nicht gerecht wird. Einer dieser Bereiche ist die Anwendung von Zwang in der psychiatrischen Behandlung.

    In Deutschland gibt es keine psychiatrische Klinik, die ohne die Anwendung von Zwang auskommt, jedenfalls nicht unter den Kliniken mit sogenannter Pflichtversorgung, in die Menschen von der Polizei oder mit einem Beschluss eines Gerichts in einem Notfall gebracht werden können. Daraus könnte man den Schluss ziehen, Zwangsmaßnahmen seien ein Teil der psychiatrischen Arbeit, und so lange die Verhältnisse so bleiben wie sie sind, könne man daran nicht viel ändern.

    Deutschland leistet sich aber wie in so vielen anderen Bereichen unglaubliche Unterschiede der Lebensverhältnisse. So ist Ihr Risiko, als Patient einer psychiatrischen Klinik in Herne, Westfalen, Opfer einer Zwangsmaßnahme zu werden, bei weniger als 1%, in manchen Kliniken in Baden-Württemberg jedoch 12% oder sogar in einem Fall 17%.

    Dazu kommt, dass die meisten Kliniken in Deutschland gar keine Angaben über die Anwendung von Zwang machen und solche Daten schon gar nicht der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Wäre es nicht wenigstens ein Anfang, wenn alle psychiatrischen Kliniken vom Gesetzgeber verpflichtet würden, die Anwendung von Zwang überprüfbar zu erfassen und im jährlichen Qualitätsbericht der Klinik der Öffentlichkeit zur Verfügung stellten?

    Immerhin gibt es Fortschritte. Die Bundesländer Baden-Württemberg und Hessen haben bei der Reform ihrer Psychiatriegesetze eine landesweite Erfassung von Unterbringungen, Zwangsbehandlungen und Zwangsmaßnahmen eingerichtet. Leider werden die Daten nicht veröffentlicht, so dass Patienten und Angehörige sich informieren können, wie in ihren Kliniken vor Ort gearbeitet wird. Der Bundestag hat es bei den Neuregelungen im Betreuungsrecht verpasst, die Kliniken zu einer Erfassung von Zwangsmaßnahmen und Zwangsbehandlungen in dieser Weise zu verpflichten.

    Dabei sagen alle, die Anwendung von Zwang in der Psychiatrie müsste auf das absolute Minimum reduziert werden. Das stimmt, aber wo liegt denn das absolute Minimum, bei 12% in einer baden-württembergischen Klinik, bei 8% in Bayern oder bei 3% in Berlin? Und wenn man es ernst meint mit dem “absoluten Minimum”, würde man dann nicht von allen Einrichtungen verlangen, solche Daten zu erfassen und zu veröffentlichen?

    Wie sieht es mit der Zwangsbehandlung aus? In Hessen und in Baden-Württemberg ist eine Zwangsbehandlung sowohl bei einwilligungsfähigen als auch einwilligungsunfähigen Patienten möglich. Dies widerspricht den aktuellen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts. Dass in Hessen und in Baden-Württemberg die Grünen, die sich als Partei der Bürgerrechte verstehen, in der Regierungsverantwortung solche Gesetze beschließen, ist nicht nur eine Schande, sondern auch ein Beispiel, wie auch heute noch die Bürgerrechte für viele gelten und für manche weniger.

    So lange es sich in Deutschland ein Bundesland mit einer konservativen Regierung leisten kann, ungestraft an der Konvention vorbei Gesetze zu beschließen, so lange braucht sich Deutschland nicht zu wundern, wenn es eins ums andere Mal von den Vereinten Nationen dafür gerügt wird. Deutschland droht bei diesen Fragen international ins Hintertreffen zu geraten. Gerade Deutschland!

    Aber auch von anderer Seite gab es in Hessen wenig zu hören in dieser Richtung: nichts war zur Zwangsbehandlung von einwilligungsfähigen oder nicht einwilligungsfähigen Patienten von den Psychiatern zu hören, aber auch nicht von der Fachgesellschaft, der DGPPN (Diese Aussage ist nachweislich falsch, die DGPPN hat sich in einer Stellungnahme zum Entwurf für ein hessisches Psychiatriegesetz am 14.06.2016 ausdrücklich gegen die Zwangsbehandlung von einwilligungsfähigen Patienten ausgesprochen. Der Autor bedauert diese Aussage getätigt zu haben; er war an der entsprechenden Stellungnahme der Fachgesellschaft beteiligt. Ergänzung zum Redemanuskript vom 21.10.2017) oder von der DGSP, der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie. Einzig die Partei “die Linke” hatte sich zu Wort gemeldet, am Ende vergeblich.

    Nun mag man den Einrichtungen der Psychiatrie zubilligen, dass sie einen gesetzlichen Auftrag erfüllen, wenn es das Betreuungsrecht und die Landespsychiatriegesetze vorsehen, Menschen mit psychischen Behinderungen in der Psychiatrie gegen ihren Willen in Kliniken und in Wohnheimen oder Pflegeheimen unterzubringen. Wenn sich die Betroffenen dann gegen diese Maßnahmen wehren, was sollen die Einrichtungen machen?

    Was soll ein Mitarbeiter einer solchen Einrichtung machen, wenn er von einem Patienten oder Bewohner angegriffen wird? Bleibt da nur das Festbinden am Bett oder das Einsperren in einem Isolierzimmer? Dennoch machen die höchst unterschiedlichen Raten bei der Anwendung von Zwang stutzig. Was machen denn die Kliniken mit ein oder drei Prozent anders als die mit 10 oder 12%? Sind die Menschen mit psychischen Behinderungen in Stuttgart gefährlicher als in Herne?

    Natürlich nicht! Das was sich unterscheidet sind die Verhältnisse im Hilfssystem vor Ort. Wir wissen heute, dass es Kliniken mit offenen Stationen, die ihre Patienten nicht nach Diagnosen und Schwere der Krankheit unterschiedlichen Stationen zuordnen, besser gelingt, Zwangsmaßnahmen und Gewalt auf den Stationen zu vermeiden. Wir dürfen annehmen, dass Kliniken, die sich aktiv in der Gemeinde um die Menschen mit psychischen Störungen kümmern, sei es durch ambulante psychiatrische Pflege, sei es durch Hometreatment, mit Regionalbudgets oder in der integrierten Versorgung, dass diese Kliniken weniger Patienten im zermürbenden, anstrengenden und gesundheitsgefährdenden Modus der Drehtürpsychiatrie haben.

    Was also brauchen wir für eine Psychiatrie ohne Zwang:

    1. Eine gesetzliche Verpflichtung für alle Träger der psychosozialen Versorgung, Kliniken, Wohnheime und Pflegeheime zur vollständigen Erfassung von Zwangsmaßnahmen und Veröffentlichung der Daten in ihren Qualitätsberichten.

    2. Ein Verbot von geschlossenen Stationen und von Stationen, in denen schwer kranke Patienten zusammengefasst werden. Die Kliniken sollen verpflichtet werden, auf allen Stationen ein gewaltvermeidendes Milieu zu schaffen. Dazu gehört auch ein von innen verriegelbares Einzelzimmer für alle Patienten, die dies wünschen. Nicht anders als jeder von uns, der eine Nacht im Hotel verbringt.

    3. Ein Verbot von geschlossenen Wohn- und Pflegeheimen.

    4. Ein Verbot der zwangsweisen Anwendung von Psychopharmaka oder Elektroschock.

    5. Der Gefährdung durch selbstverletzendes und aggressives Verhalten soll durch intensive Betreuung mit geschultem und ausreichend vorhandenem Personal begegnet werden.

    6. Patienten und Bewohner erhalten Unterstützung bei der Abfassung von Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten und Behandlungsvereinbarungen.

    7. Flächendeckendes Hometreatment in Deutschland, das so vergütet wird, dass die Kliniken keine finanziellen Anreize mehr für stationäre Behandlungen haben.

    8. Und schließlich, und am allerwichtigsten: die Beteiligung von Psychiatrie-Erfahrenen bei allem, wo Psychiatrie draufsteht und wo Psychiatrie drin steckt: bei der Gesetzgebung, bei der Forschung, in den Aufsichtsgremien, bei den Fachgesellschaften – DGPPN und WPA, und den Fachverbänden, in den Aufsichtsräten der Kliniken und der Träger der Gemeindepsychiatrie.

    9. Und unbedingt: ein Ende der Diskriminierung von psychisch Kranken durch die Strafjustiz. Während jeder Straftäter mit dem Strafmaß eine konkrete Aussicht und ein Datum zum Wiedererlangen der Freiheit bekommt, so wird genau diese Hoffnung psychisch Kranken vorenthalten. Sie sind der Willkür oder Güte, dem politischen Wind und den regionalen Gegebenheiten der Gutachter und Strafvollstreckungskammern ausgeliefert. Der §63 diskriminiert psychisch Kranke eklatant gegenüber nicht psychisch Kranken. In Italien wurde genau dieser Diskriminierung mit einer Reform des Strafrechts abgeholfen. Weshalb nicht auch in Deutschland? Wo sind mutige Gesetzgeber, die sich vom mangelnden Reformgeist in der deutschen Psychiatrie nicht entmutigen lassen?

    Ich möchte mit einem Hoffnungsschimmer zum Ende kommen: im neuen §1906a BGB, in dem seit Juli dieses Jahres die Zwangsbehandlung geregelt ist, steht ausdrücklich, dass eine solche nur dann in Frage kommt, wenn sie dem Willen des Betroffenen nach §1901a BGB entspricht. Im §1901a sind die Patientenverfügung aber auch der sogenannte mutmaßliche Wille geregelt. Eine Zwangsbehandlung kommt also nur noch dann in Frage, wenn der Betroffene eine solche in einer Patientenverfügung festgelegt hat, oder wenn sie dem sogenannten mutmaßlichen Willen entspricht.

    Der mutmaßliche Wille meint bei sogenannter Einwilligungsunfähigkeit laut Gesetz
    “frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und persönliche Wertvorstellungen des Betreuten”. Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln.

    Eine Behandlung unter Zwang geht also nur noch dann, wenn der Betroffene vor der akuten Erkrankung erkennen hat lassen, dass er diese Behandlung möchte. Es mag Ihnen absurd erscheinen, aber wir haben nun die Situation in Deutschland, dass eine Behandlung gegen den Willen nur möglich ist, wenn sie dem Willen entspricht.

    Vielleicht brauchen wir solche Gegensätze und Widersprüchlichkeiten, um Fortschritte in der Psychiatrie zu erreichen.

    Ich danke Ihnen, dass Sie zu dieser Versammlung kommen und für eine Psychiatrie ohne Zwang eintreten.

    (Manuskript des Redebeitrages von Martin Zinkler bei der Protestveranstaltung gegen den WPA-Weltkongress am So 8.10.17 in Berlin)

    Live-Sendung mit Martin Zinkler (vom 2. Oktober 2017)

    Psychiatrie ohne Zwang und Gewalt? \“Eine Frage der Haltung!\“ meint Chefarzt Dr. Martin Zinkler, der sich 2011 entschieden hat, an seiner Klinik in Heidenheim keine Zwangsbehandlungen mehr durchzuführen.

    Statt eine Wiederholung auszustrahlen, haben wir den ersten Oktobermontag für eine Live-Sendung genutzt, und wir danken Martin Zinkler für die spontane Zusage, telefonisch an der Sendung mitzuwirken!

    Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener zum Welttag der Suizidprävention am 10. September

    Zum Welttag der Suizidprävention

    Warum wollen Menschen sterben?

    Die öffentliche Diskussion über Suizid wird in Deutschland von Psychiatern dominiert. Diese wollen uns glauben machen, es gäbe eine einfache Antwort auf die Frage, warum Menschen sich suizidieren: Suizide seien zu 90% auf „psychische Erkrankungen“ zurückzuführen [1, 2]. Solche Rhetorik ist geeignet, Politiker unter Zugzwang zu setzen und Geld für Einrichtungen, Modellprojekte und Suizidforschung zu erpressen. Aussagen, die meisten Suizide gingen auf „psychische Erkrankungen“ zurück, stützen sich auf so genannte psychiatrische Autopsiestudien, bei denen rückblickend versucht wird, bei durch Suizid Verstorbenen Symptome einer Störung nachzuweisen [3]. Die Validität solcher rückwirkend gestellten Diagnosen ist mehr als fraglich. Außerdem gehen Psychiater damit der Frage aus dem Weg, welche konkrete Behandlung vor dem Suizid stattgefunden hat und der Frage, warum der einzelne Mensch sich getötet hat. Klar belegt ist, dass Menschen, die unter widrigen Lebensumständen leiden, sich eher umbringen: Alter und Krankheit [4, 5], Armut und soziale Zersplitterung [6, 7], Einsamkeit [8], Marginalisierung und Diskriminierung [9, 10] erhöhen das Suizidrisiko enorm.

    Antworten des Psychiatrischen Systems auf Suizidalität

    Standardmäßig hat die stationäre Psychiatrie zwei Strategien parat, um mit Suizidgedanken „umzugehen“: Erstens eine fragliche Risikobeurteilung und zweitens das Einsperren. Der Versuch, mittels einer Risikobeurteilung Suizide vorherzusagen, ist zum Scheitern verurteilt. Selbst wenn man alle bekannten Risikofaktoren gemeinsam berücksichtigt, ist es nicht möglich, korrekt vorherzusagen, ob sich jemand umbringen wird [11]. Auch das Einsperren ist keine evidenzbasierte Methode, um Suizide zu verhindern: In Kliniken mit geschlossenen Stationen gibt es nicht weniger Suizide als in Kliniken mit so genannter Open-Door-Policy [12]. Gängige Praxis ist, dass als suizidgefährdet eingestufte Menschen auf geschlossenen Stationen untergebracht werden, ohne dass sie in ihrer Krise begleitet werden. Diese Praxis dient nicht dem Schutz der Betroffenen, sondern der rechtlichen Absicherung der Behandler: Es ist für sie unerheblich, ob der Patient/die Patientin sich umbringt – solange diese Person dabei eingesperrt war, sind die Behandler abgesichert. Die Menschen, die eingesperrt werden, merken sehr gut, dass die Behandler nicht an ihnen und ihrem Leben interessiert sind.

    Behandlungsbedingte Suizide

    Als Betroffenenverband mit über 20jähriger Erfahrung in Selbsthilfe und Beratung wissen wir, dass die auf psychiatrischen Stationen erlebte körperliche und seelische Gewalt zur Selbsttötungsbereitschaft beiträgt oder diese erst auslöst. Eine dänische Bevölkerungsstudie [13] fand einen deutlichen Zusammenhang zwischen psychiatrischer Behandlung und Suiziden: Personen, die Psychopharmaka einnahmen, töten sich 6-mal so häufig wie nicht Behandelte. Personen, die ambulant psychiatrisch behandelt wurden, töten sich 8-mal so häufig wie nicht Behandelte. Personen, die einen stationären Aufenthalt hinter sich haben, töten sich 44-mal so häufig wie nicht Behandelte. Das zeigt, dass psychiatrische Maßnahmen mindestens sehr schlecht darin sind, Suizide zu verhindern. Es wirft auch die Frage auf, ob die Behandlung selbst Suizide verursacht. Wissenschaftler haben bereits darauf hingewiesen, dass psychiatrische Behandlung, insbesondere Hospitalisierung, Menschen suizidal machen kann [14, 15]. Dafür spricht auch, dass Suizidraten auf psychiatrischen Stationen extrem hoch sind und sich enorm zwischen Einrichtungen unterscheiden [16]. Neben der in der Psychiatrie erfahrenen Gewalt können auch die eingesetzten Pharmaka zu Selbsttötungen beitragen. Das gilt sowohl für Antidepressiva als auch für Neuroleptika.

    Suizid durch Antidepressiva

    Die Liste dokumentierter Suizide unter Behandlung mit SSRI ist mittlerweile unerschöpflich [17]. Für eine wissenschaftliche Beurteilung des Suizidrisikos unter Antidepressiva stellt die Industrie allerdings bis heute keine ausreichenden Daten zur Verfügung [18]. Das erhöhte Suizidrisiko für Kinder und Jugendliche unter Antidepressiva wird mittlerweile nicht mehr geleugnet [ebd.]. Ebenso geben Psychiater heute zu, dass bei Erwachsenen zu Behandlungsbeginn Selbsttötungen wahrscheinlicher werden – selbst bei Patienten, die vor der Behandlung nicht suizidal waren [19].

    Suizid durch Neuroleptika

    Seit Einführung der Neuroleptika weisen Betroffene und Psychiater darauf hin, dass diese, insbesondere in Depotform, depressiv machen und Suizidgedanken auslösen können [20]. Ein Vergleich der Suizidraten „schizophrener“ Patienten um 1900 und in den 1990er Jahren zeigte, dass sich diese Menschen nach der Einführung der Neuroleptika 20mal so häufig suizidieren [21]. Diese Entwicklung ist umso drastischer vor dem Hintergrund, dass Menschen mit diesen Substanzen zwangsbehandelt werden.

    Was hilft Menschen in suizidalen Krisen?

    In Deutschland überleben jährlich mindestens 100.000 Menschen einen Suizidversuch [22]. Knapp 10% denken mindestens einmal in ihrem Leben ernsthaft über Suizid nach [23]. Die Erfahrungsexpertise dieser Millionen Menschen blieb bislang völlig ungenutzt. Sie können am besten sagen, was in einer suizidalen Krise hilfreich ist. Menschen werden suizidal, wenn ihr Leben unerträglich ist und sie nicht die Hoffnung haben, etwas daran ändern zu können [24]. Viele Überlebende von (chronischer) Suizidalität berichten zurückblickend, dass ihnen am meisten geholfen hat, wenn Freunde, HelferInnen zugehört und sie unterstützt haben, ihr Leben attraktiver zu gestalten und zur Neugier auf Neues zurückzufinden [25, 26]. Wichtig ist, dass Menschen über ihre Suizidgedanken sprechen können. Wir brauchen daher Räume, in denen dies möglich ist, ohne pathologisiert, eingesperrt oder behandelt zu werden.

    Fünf Forderungen

    1. Einführung eines nationalen Suizidregisters, das vorangegangene psychiatrische Behandlungen bis zu einem Jahr rückwirkend erfasst.
    2. Auch psychiatrische Akutstationen sind grundsätzlich offen zu führen.
    3. PatientInnen und ihre Angehörigen sind über die suizidfördernden Wirkungen von Psychopharmaka mündlich und schriftlich aufzuklären.
    4. Der Fokus von Suizidprävention muss verschoben werden. Die Millionensummen, die für psychiatrische Versorgung und Forschung ausgegeben werden, sind besser bei den Betroffenen selbst aufgehoben und sollten dazu vor allem eingesetzt werden, soziale Ungleichheit abzubauen.
    5. Finanzielle und ideelle Förderung nicht-medizinischer Projekte und Anlaufstellen, insbesondere solchen, die von Betroffenen/Erfahrenen geleitet werden.

    Anhang: Literatur

    1 Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Depression und Suizidalität. Im Internet: www.deutsche-depressionshilfe.de​/​stiftung/​depression-und-suizidalitaet.php; Stand: 7.3.2017
    2 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. Welttag der Suizidprävention: Früherkennung psychischer Erkrankungen rettet Menschenleben. Berlin; 2016
    3 Cavanagh JT, Carson AJ, Sharpe M, Lawrie SM. Psychological autopsy studies of suicide:
    A systematic review. Psychological Medicine; DOI: 10.1017/S0033291702006943
    4 Kaplan MS, McFarland BH, Huguet N, Newsom JT. Physical illness, functional limitations, and suicide risk: A population-based study. American Journal of Orthopsychiatry; DOI: 10.1037/0002 9432.77.1.56
    5 Waern M, Rubenowitz E, Runeson B, Skoog I, Wilhelmson K, Allebeck P. Burden of illness and suicide in elderly people: case-control study. BMJ : British Medical Journal. 2002;324(7350):1355.
    6 Whitley E, Gunnell D, Dorling D, Smith GD. Ecological study of social fragmentation, poverty and suicide. BMJ : British Medical Journal 1999: 319: 1034-1037.
    7 Rehkopf DH, Buka SL. The association between suicide and the socio-economic characteristics of geographical arias: a systematic review. Psychological Medicine; DOI:10.1017/S003329170500588
    8 Stickley A, Koynagi A. Lonelyness, common mental disorders and suicidal behaviors: Findings
    from a general population survey. Journal of Affective Disorders. DOI: 10.1016/j.jad.2016.02.054
    9 Shadick R, Backus Dagirmanjian F, Barbot B. Suicide risk among college students: The intersection of sexual orientation and race. Crisis 2015: 36(6): 416-423.
    10 Farrelly S, Jeffery D, Rüsch N, Williams P, Thornicroft G, Clement S. The link between mental
    health-related discrimination and suicidality: Service user perspectives. Psychological Medicine.
    DOI: 10.1017/S0033291714003158
    11 Grahm GA, Reger MA. Army suicide surveillance: A: In E. Ritchie (Hrsg.): Combat and Operational
    Behavioral Health (pp.393-402)
    12 Huber CG, Schneeberger AR, Kowalinski E et al. Suicide risk and absconding in psychiatric
    hospitals with and without open door policies: A 15 year, observational study. The Lancet
    Psychiatry; DOI: 10.1016/S2215-0366(16)30168-7
    13 Hjorthoj CR, Madsen T, Agerbo E et al. Risk of suicide according to level of psychiatric treatment:
    a nationwide nested case-control study. Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology;
    DOI: 10.1007/s00127-014-0860-x
    14 Large MM, Ryan CJ. Disturbing findings about the risk of suicide and psychiatric hospitals. Social
    Psychiatry and Psychiatric Epidemiology; DOI: 10.1007/s00127-014-0912-2
    15 Large M, Ryan C, Walsh G et al. Nosocomial suicide. Australasian Psychiatry;
    DOI: 10.1177/1039856213511277
    16 Walsh G, Sara G, Ryan CJ et al. Meta-analysis of suicide rates among psychiatric in-patients. Acta
    Psychiatrica Scandinavica; DOI: 10.1111/acps.12383
    17 Meysenburg R, Healy D. Sammlung von Zeitungsberichten über SSRI-assoziierte Suizide und
    Gewalttaten. Im Internet: ssristories.org​/​all-posts/​; Stand: 12.08.2017
    18 Sharma T, Guski LS, Freund N et al. Suicidality and aggression during antidepressant treatment:
    systematic review and meta-analyses based on clinical study reports. British Medical Journal
    (Clinical research ed.); DOI: 10.1136/bmj.i65
    18 Benkert O, Hippius H. Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie. 11 Aufl. Berlin: Springer; 2017
    20 Lehmann P. Behandlungsergebnis Selbsttötung. Suizidalität als mögliche Wirkung psychiatrischer Psychopharmaka. Im Internet: www.antipsychiatrieverlag.de​/​artikel/​gesundheit/​suizid.htm; Stand: 25.02.2017
    21 Healy D, Harris M, Tranter R et al. Lifetime suicide rates in treated schizophrenia: 1875-1924 and 1994-1998 cohorts compared. British Journal of Psychiatry 2006; 188: 223–228
    22 Fiedler G. Kurzinformation über Suizidalität und Suizid. Information des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland, 2010-2015. http://www.suizidpraevention-deutschland.de/informationen/kurzinfo-suizid.html
    23 Nock MK, Borges G, Bromet EJ, Alonso J, Angermeyer M, Beautrais A, …, Williams D. Cross-national prevalence and risk factors for suicidal ideation, plans and attempts (Data Supplement). British Journal of Psychiatry. DOI: 10.1192/bjp.bp.107.040113
    24 Hall W. Living with suicidal feelings. Scottish Recovery Network, 2013. https://www.scottishrecovery.net/resource/living-with-suicidal-feelings/
    25 Webb D. Thinking about suicide: contemplating and comprehending the urge to die. 2. Aufl. Manchester: PCCS Books; 2013
    26 Blauner SR. How I Stayed Alive When My Brain Was Trying to Kill Me: One Person’s Guide to Suicide Prevention