\’Hilfe\‘, \’Schutz\‘ und \’Anti-Stigma\‘ – Propaganda und \’Neusprech\‘ in der Psychiatrie (Teil 1)

Anstaltspsychiatrie, Zwangsjacken oder Elektroschock sind Begriffe, die einer dunklen, scheinbar überwundenen Vergangenheit der Psychiatrie zugeschrieben werden. Dass der Elektroschock unter der Bezeichnung EKT (Elektrokrampftherapie) seit einigen Jahren zunehmend wieder eingesetzt wird, dass die Zwangsjacken lediglich durch die Verabreichung von Psychopharmaka abgelöst wurden und dass Zwangsmaßnahmen und -Behandlungen weiterhin an der Tagesordnung sind, ist vielen Menschen nicht bewußt. Vor 40 Jahren sollte mit der Psychiatrie-Enquete eine „tiefgreifende Reform der Psychiatrie“ auf den Weg gebracht werden – an den fragwürdigen Grundlagen des psychiatrischen Menschenbildes hat sich jedoch wenig geändert. Das Konzept der „psychischen Erkrankungen“ wird kaum hinterfragt. Dabei werden immer mehr Menschen psychiatrisch behandelt. Die Zahl der Krankschreibungen und Früh-Berentungen aufgrund psychiatrischer Diagnosen und auch die Verschreibung von Psychopharmaka haben Rekordniveau erreicht. Im Geschäft mit der Psyche werden Milliardenumsätze erzielt. Worüber jedoch kaum jemand spricht: Über 10.000 Menschen kommen jährlich allein in Deutschland im Zusammenhang mit psychiatrischer Behandlung ums Leben. Die Langzeitbehandlung mit Neuroleptika (im psychiatrischen Neusprech auch „Antipsychotika“ genannt) führt zu einer Verkürzung der Lebenserwartung um durschnittlich 25 bis 32 Jahre. Zunehmend werden auch Kinder und Jugendliche zu psychiatrischen Patienten – häufig wegen Problemen, die im Zusammenhang mit der Schule entstehen.

Unsere Sprache bestimmt unser Denken. Die Begriffe, die wir verwenden, beeinflussen unsere Einstellung und unsere Gefühle. Es macht einen Unterschied, wie wir die Dinge bezeichnen. Und es ist kein Zufall, dass sich viele Namen und Bezeichnungen in den vergangenen Jahren (zum Teil mehrfach hintereinander) geändert haben. Halt! Die Namen haben sich nicht von alleine geändert – sie wurden geändert. Raider heißt jetzt Twix. Das Arbeitsamt ist von der Agentur für Arbeit zum Jobcenter mutiert. Meine Krankenkasse nennt sich jetzt Gesundheitskasse. So sollen Akzeptanz hergestellt und positive Assoziationen hervorgerufen werden. Das kleine Wörtchen ‚für‘ kann sehr wirkungsvoll sein für solche Zwecke.
Die ehemaligen Nervenheilanstalten heißen inzwischen „Zentren für Psychiatrie“ – oder noch besser: „Zentren für Seelische Gesundheit“. Statt auf der Geschlossenen finden wir uns im „geschützten Bereich“ wieder. Dort wird uns „die notwendige Hilfe nicht vorenthalten“. Das klingt zumindest viel angenehmer, als von „einsperren“ und „isolieren“ zu sprechen, von „Zwangsbehandeln“ oder vom Brechen des Willens. Was in der Psychiatrie mit „Schutz“ und „Hilfe“ bezeichnet wird, könnten wir aus anderer Perspektive auch „Freiheitsberaubung“ und „Folter“(2) nennen. Wir werden ans Bett gefesselt und es werden uns mit Gewalt Substanzen verabreicht, die massive Störungen (nicht nur) im Gehirn verursachen. Natürlich nur zu unserem „Wohl“ und weil wir „krankheitsbedingt“ nicht in der Lage seien, in die „notwendige Behandlung“ einzuwilligen. Wie fragwürdig die Konzepte der psychiatrischen „Erkrankungen“ und deren Behandlung sind, steht auf einem anderen Blatt. Immerhin: wir werden nicht mehr als „Geisteskranke“ bezeichnet. Inzwischen werden wir mit dem Label „Psychisch Kranke“ bedacht, das in jüngerer Zeit zunehmend durch den Begriff „Menschen mit psychischen Erkrankungen“ ersetzt wird. Das klingt zwar schon viel menschlicher, verschleiert aber den Umstand, dass diese sogenannten „Erkrankungen“ keine beweisbaren Tatsachen sondern lediglich willkürliche Zuschreibungen sind.(3) Den Mangel an Beweisen machen die Meinungsbildner in der Psychiatrie wett durch in sich verschachtelte Konstrukte aus Behauptungen und Zirkelschlüssen gepaart mit ausgefeilter Rhetorik. Der „Mythos Geisteskrankheit“(4) wird uns tagtäglich quer durch sämtliche Medien als Tatsachenbehauptung untergejubelt. Wir haben uns gewöhnt an die Propaganda. An die Lügen und Halbwahrheiten, an das Verschweigen und Vorenthalten von Information. Manche Märchen werden so oft wiederholt, dass es aussichtslos erscheint, jedes mal von Neuem auf Richtigstellung zu pochen. Die Medienvertreter*innen sind auch nur zu gerne bereit, zu glauben, was sogenannte Fachleute ihnen einreden. Wir wissen, dass es um Geld geht. Um sehr viel Geld. Die Pharma-Industrie macht Milliardenumsätze mit Psychopharmaka. Wir wissen auch, dass z.B. die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und auch viele ihrer Mitglieder mehr als dankbar sind für die finanziellen Zuwendungen, die sie von der Industrie erhalten. Sehr ärgerlich ist jedoch, dass für die Finanzierung der Propagandakampagnen der DGPPN das Bundesministerium für Gesundheit aufkommt. Und dass sich über 80 Organisationen dafür hergeben diese Kampagnen mit ihrem Namen mitzutragen. Folgende Sätze lesen sich wie ein geschickt formulierter Werbetext, den eine PR-Agentur im Auftrag von Pharma-Unternehmen verfasst haben könnte:

Psychopharmaka wirken aufs Gehirn, aufs Fühlen, Erleben und Handeln. „Doch sie verändern nicht die Persönlichkeit, sondern bekämpfen die Symptome, die bei den Patienten einen hohen Leidensdruck verursachen“, erklärt Dr. Iris Hauth, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Sie stellen nicht ruhig, sondern setzen an den biologischen Ursachen der Erkrankung an, indem sie einen Mangel oder Überschuss von bestimmten Botenstoffen im Gehirn (Neurotransmitter) regulieren. Und die meisten Medikamente – allen voran die beiden Hauptgruppen Antidepressiva und Antipsychotika (s. Teil VI) – machen auch nach jahre- oder jahrzehntelanger Einnahme nicht abhängig.

Tatsächlich stammt dieser Text vom „Aktionsbündnis Seelische Gesundheit“, das vor 10 Jahren „von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) gemeinsam mit Open the doors als Partner des internationalen Antistigma-Programms“ initiiert wurde, wie auf der Startseite zu lesen ist. Die Unterseite „fairmedia“ gibt Journalist*innen Empfehlungen, wie „ein angemessenes Bild von Menschen mit psychischen Erkrankungen in den Medien“ entstehen soll. Für die Gestaltung der Seiten ist – wen wundert´s – eine Werbefirma aus Berlin verantwortlich.
Unverantwortlich ist allerdings der Inhalt (nicht nur) dieser hier zitierten Behauptungen. Es ist wahr, dass Psychopharmaka aufs Gehirn, aufs Fühlen, Erleben und Handeln wirken. Die Wirkung beschränkt sich jedoch nicht aufs Gehirn. Je nach Substanz müssen wir mit massiven körperlichen ‚Neben‘-Wirkungen rechnen. Ob Gewichtszunahme, Diabetes, Libidoverlust und Impotenz, Blutbildveränderungen, Herz- und Kreislaufprobleme, Bewegungsstörungen oder gar plötzlicher Tod: die Liste unerwünschter Wirkungen ist lang. Seit Jahren ist bekannt, dass Konsumenten von Neuroleptika bei Langzeiteinnahme mit einer Verkürzung der Lebenserwartung um 25 bis 32 Jahre rechnen müssen.(5) Die Wirkung von Psychopharmaka aufs Gehirn, aufs Fühlen, Erleben und Handeln lässt sich im Einzelfall auch kaum vorhersagen. Immerhin handelt es sich um Stoffe, die die Hirnchemie verändern und dadurch in die Persönlichkeit eingreifen. Jedes Gehirn ist anders, und welche Substanz in welcher Dosierung welche Effekte hat, wird von Person zu Person neu durchprobiert. Die Behauptung, dass die Persönlichkeit unverändert bliebe, trotz erheblicher Veränderung von Erleben, Fühlen und Handeln, lässt sich meines Wissens nicht belegen. Wer jedoch in Fachliteratur und Studien nach persönlichkeitsverändernden Wirkungen sowohl von Antidepressiva als auch insbesondere von Neuroleptika sucht, kann an vielen Stellen fündig werden(6). Psychopharmaka werden in der Tat eingesetzt um Symptome zu bekämpfen. Wie erfolgreich diese Symptombehandlung im Einzelfall ist, lässt sich nicht vorhersagen. Studien mit Antidepressiva vom Typ SSRI haben zum Beispiel gezeigt, dass diese Mittel sich in der Wirksamkeit kaum von Placebos unterscheiden.(7) Im Gegensatz zu Placebos muss mit einer ausgeprägten Absetzsymptomatik gerechnet werden, wenn die Einnahme dieser Mittel beendet wird. Die These, psychische Ausnahmezustände („Störungen“, „Erkrankungen“) seien auf ein Ungleichgewicht der Botenstoffe im Gehirn zurückzuführen, nutzt vor allem denen, die daran verdienen. Weder der Überschuss noch der Mangel an Botenstoffen lässt sich als Ursache von Störungen nachweisen. Bezeichnend ist, dass vor allem jene Behandlungsformen nachhaltige Ergebnisse erzielen, die ohne oder mit möglichst wenig Psychopharmaka-Einsatz auskommen.
Die dreisteste Lüge ist hier jedoch die Behauptung, dass Psychopharmaka nicht abhängig machen. „Jedes Psychopharmakon kann Entzugssymptome produzieren. Dies geschieht zum Teil, weil das Gehirn sich an das Psychopharmakon anpasst und es in einem abnormal kompensierten Zustand zurückgelassen wird, wenn die Dosis eines Medikaments reduziert wird oder das Medikament abgesetzt wird.“ schreibt der amerikanische Psychiater Peter Breggin(8). Ist es nicht naheliegend, von Abhängigkeit zu sprechen, wenn wir davon ausgehen müssen, dass beim Absetzen einer Substanz Probleme auftreten, die zuvor nicht vorhanden waren? Die Verharmloser*innen der Psychopharmaka können natürlich einwenden, dass bei einem Großteil der sogenannten Medikamente nicht sämtliche Kriterien der WHO-Definition von „Abhängigkeit“ zutreffen, und dass vor diesem Hintergrund die Behauptung „die meisten Medikamente machen auch nach jahre- oder jahrzehntelanger Einnahme nicht abhängig“ zwar irreführend und missverständlich ist, jedoch nicht als Lüge gewertet werden sollte. Der Vollständigkeit halber sollten wir dann aber auch anfügen, dass die WHO-Definition von Abhängigkeit im Jahre 1987 den Erfordernissen des Marktes angepasst wurde – in Zeiten in denen die Genehmigungsverfahren für die neuen SSRI von der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) bearbeitet wurden. Was sollen all diejenigen dazu sagen, die mit ansehen müssen, oder gar am eigenen Leib erleben, welche Probleme das Absetzen von Psychopharmaka auslösen kann und mit welchen Auswirkungen das verbunden ist? Wer warnt verantwortungsvolle Journalist*innen davor, bei dieser Werbekampagne gegen die „Stigmatisierung von Medikamenten“ unhinterfragt abzuschreiben?(9)
Wir müssen lernen, die Behauptungen zu hinterfragen, die uns von denjenigen, die an Behandlung und Hilfe verdienen, als angeblich sachliche Informationen aufgetischt werden. In einer wirklich „fairen“ Diskussion müssen auch die unbequemen Tatsachen offen zur Sprache kommen. Risiken und (Neben-)Wirkungen dürfen nicht weiter verharmlost werden. Mögliche Schäden müssen dem erhofften Nutzen gegenübergestellt werden. Als Patienten und Angehörige, aber auch als interessierte Öffentlichkeit, haben wir das Recht auf ungeschönte Information. Wir haben das Recht auf informierte Entscheidung und wollen die Entscheidungen über unsere Gesundheit, unsere Zukunft und unser Leben nicht nur auf Halbwahrheiten und Werbelügen stützen.

Mirko Ološtiak, Februar 2016

(1) Der Ausdruck Neusprech (englisch: Newspeak) stammt aus dem Roman 1984 von George Orwell und bezeichnet eine Sprache, die aus politischen Gründen künstlich modifiziert wurde.
(…) Neusprech bezeichnet die vom herrschenden Regime vorgeschriebene, künstlich veränderte Sprache. Das Ziel dieser Sprachpolitik ist es, die Anzahl und das Bedeutungsspektrum der Wörter zu verringern, um die Kommunikation des Volkes in enge, kontrollierte Bahnen zu lenken… (Wikipedia)

(2) siehe Alice Halmi, http://www.irrenoffensive.de/foltersystem.htm

(3) Neben der Bezeichnung „Psychiatrie-Erfahrene“ könnten wir hier vielleicht noch von „Menschen mit psychiatrischen Diagnosen“ sprechen – wenn denn überhaupt ein Begriff nötig sein sollte, um Menschen zu benennen, die das psychiatrische „Versorgungs-“-System in Anspruch nehmen oder diesem ausgesetzt sind.

(4) Thomas S. Szasz, 1960 – http://www.szasz-texte.de/texte/mythos-geisteskrankheit.html

(5) siehe z.B.: http://www.bpe-online.de/verband/rundbrief/2007/3/aderhold.htm

(6) siehe z.B.: http://www.praxis-dr-shaw.de/blog/kann-die-behandlung-von-depressionen-mit-antidepressiva-zu-personlichkeitsveranderungen-fuhren/

(7) siehe auch:
http://patientensicht.ch/artikel/irving-kirsch-moderne-antidepressiva-sind-super-placebos

(8) Breggin, Peter R. (2013):Psychiatric Drug Withdrawal – A guide for prescribers, therapists, patients, and their families.New York:Springer Publishing Company

(9) http://fairmedia.seelischegesundheit.net/dossiers: „Der Themendienst ist Teil des Informationsdienstes des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit, in dem wir aktuelle Informationen aus dem Bereich der seelischen Gesundheit redaktionell zusammenstellen. Die Texte können Sie gerne übernehmen. Wenn Sie selber etwas zum Thema machen möchten: Bei den aufgelisteten Initiativen und Verbänden bekommen Sie Informationen aus erster Hand – von Betroffenen, Angehörigen oder Fachleuten. Möglich wird dieser Redaktionsdienst durch die Unterstützung des Bundesministeriums für Gesundheit.“

Stellungnahme der DGSP zum Pharma-(Werbe-)Dossier der „fairmedia“-Kampagne: http://www.dgsp-ev.de/fileadmin/user_files/dgsp/pdfs/Stellungnahmen/Stellungn._ASG_Prof._Gaebel.pdf“

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