Trotz stetig steigendem Konsum von Psychopharmaka, kontinuierlicher Zunahme von Krankschreibungen und Berentungen aufgrund psychiatrischer Diagnose, und der Tatsache, dass immer Menschen in dauerhafter Abhängigkeit vom Versorgungssystem leben, wird uns eingeredet, Psychiatrie sei gut und hilfreich für die Menschen. Im Rahmen von Anti-Stigma-Kampagnen soll uns die Scheu vor psychiatrischer Diagnose und Behandlung genommen werden. Wieder und wieder werden wir mit Zahlen konfrontiert, laut denen jeder Dritte im Laufe seines Lebens \“psychisch erkrankt\“. Dass nur ein Bruchteil dieser Menschen psychiatrische Behandlung erhält, wird uns gar als Mißstand dargestellt. Vordergründig scheinen die Anti-Stigma-Kampagnen das Ziel zu haben, Vorurteile abzubauen und die \“Menschen mit psychischen Erkrankungen\“ besser in die Gesellschaft zu integrieren. In dieser Hinsicht sind solche Kampagnen jedoch relativ wirkungslos. Wir können allerdings beobachten, dass diese Kampagnen sehr wohl eine Wirkung haben. Ähnlich wie bei der Psycho-Edukation geht es nämlich vor allem darum, das Modell der \“psychischen Erkrankungen\“ fest in unseren Köpfen zu verankern. So sprechen Psychiater auch gerne von der \“Entstigmatisierung der psychischen Erkrankungen\“. Die Fokussierung auf biologische Ursachen seelischer Ausnahme- und Leidenszustände und deren Propagierung als \“Krankheiten\“ führt in der Bevölkerung jedoch zu einer stärkeren Ablehnung der Betroffenen. Das betrifft insbesondere die Menschen, denen der Stempel \“Schizophrenie\“ aufgedrückt wurde. Eine Arbeitsgruppe um Georg Schomerus von der Universitätsmedizin Greifswald kam 2014 zu diesem Ergebnis. Die Furcht vor den Betroffenen nahm zu, während positive Reaktionen wie Mitleid und Hilfsbereitschaft abnahmen. \“Vor allem aber stieg das Bedürfnis nach sozialer Distanz deutlich: Während es 1990 20 Prozent ablehnten, mit einer an Schizophrenie erkrankten Person zusammenzuarbeiten, waren es 2011 schon 31 Prozent.\“ schreibt das Ärzteblatt in einem Bericht1. Der Anteil derjenigen, die es ablehnten, jemanden mit \“Schizophrenie\“ einem Freund vorzustellen, sei in diesem Zeitraum von 39 auf 53 Prozent gestiegen. Dies geht einher mit der Zunahme von biologischen und der Abnahme von psychosozialen Ursachenvorstellungen. „Aufklärung und Wissen ändern offenbar nichts am Problem der Stigmatisierung. Bei der Schizophrenie gibt es sogar Hinweise, dass eine einseitige Betonung biologischer Prozesse bei der Darstellung dieser Krankheit in den Medien oder durch Wissenschaftler den Betroffenen schadet. Wir konnten zeigen, dass durch ein rein biologisches Krankheitsverständnis eine vermeintliche Andersartigkeit der Betroffenen betont wird und dadurch die Ablehnung steigt“ wird die Arbeitsgruppe aus Greifswald zitiert. Dass die Öffentlichkeit mehr über „psychische Krankheiten“ weiß und einer psychiatrischen Behandlung gegenüber aufgeschlossener ist, wertet Studienleiter Georg Schomerus als positive Entwicklung2. Diese Entwicklung führt jedoch dazu, dass sich immer mehr Menschen in Behandlung begeben und sich eine \“psychische Erkrankung\“ diagnostizieren lassen3. Wem das nützt und wer davon dann profitiert, steht auf einem anderen Blatt… Wenig beachtet wird darüber hinaus, dass Psychiater keinesfalls frei sind von negativen Einstellungen gegenüber den Menschen, welche sie diagnostizieren. Eine Aufklärung der Bevölkerung durch Psychiater kann nicht mehr \“Wissen\“ vermitteln, als Psychiater selbst haben. \“Selbst wenn Antistigmakampagnen es also schaffen würden, die gesamte Bevölkerung so umfassend aufzuklären, dass alle den Wissensstand psychiatrischer Fachärzte erreichen, wären Stigma und soziale Diskriminierung von psychisch Kranken nicht ausgeräumt, sondern in manchen Aspekten vielleicht sogar verstärkt\“, schrieb Stefan Priebe 2005 in der Zeitschrift \“Psychiatrische Praxis\“4. Er weist darauf hin, dass ein Teil der Kampagnen von der Pharmaindustrie finanziert wird, und fragt: \“Geht es hier vielleicht eher darum, dass möglichst vielen Menschen verständlich gemacht wird, sie sollten Pharmaka zur Behandlung ihrer psychischen Störungen einnehmen, als um eine Überwindung von Stigma zur Förderung der sozialen Integration?\“
Wir sehen also, dass die biologische und pathologisierende Sicht auf psychische Probleme nicht nur den Fokus auf pharmakologische Behandlung lenkt, sondern auch zu verstärkter Stigmatisierung führt. Meiner Meinung nach fußt dieses Übel auf der als Tatsache behaupteten Annahme, dass Geisteskrankheit – oder \“psychische Erkrankung\“ – real existiert und nicht lediglich eine Zuschreibung durch die Gesellschaft ist. Abweichendes und störendes Verhalten oder auch psychische Probleme sozialer Natur werden mit dem Stigma \“psychisch krank\“ belegt. Mit der viel gerühmten Psychiatrie-Enquete und den Reformen, die ihr folgten, konnte die moderne Psychiatrie ihren Durchbruch feiern: Vor gut 40 Jahren wurde dort die Gleichstellung von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen mit körperlich Kranken festgeschrieben. Das Erscheinungsbild der Psychiatrie wurde äußerlich dem der Medizin angepasst und es wurde der Möglichkeit Rechnung getragen, Psychopharmaka ambulant zu verabreichen5. Vor diesem Hintergrund bekommt der Slogan \“ambulant vor stationär\“ einen fiesen Beigeschmack. Schon gut zehn Jahre nach der Enquete konnte festgestellt werden, dass mit dem Ausbau der gemeindenahen Psychiatrie auch die Zahl der Zwangseinweisungen anstieg. Dieser Trend hat sich bis heute nahezu ungebrochen fortgesetzt. Der Schutz der Menschen- und Bürgerrechte von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen steht nicht auf der Agenda der Psychiatrie6. Das angebliche \“Recht auf Behandlung\“ wird oftmals über die Grundrechte gestellt und dann auch durchgesetzt – immer wieder ohne Zustimmung der Patienten oder gar gegen deren Willen. Wenn die Bekämpfung einer angeblichen Krankheit im Vordergrund steht, tritt die Person in den Hintergrund, der diese Krankheit zugeschrieben wird. Das biologistische Dogma der \“psychischen Krankheiten\“ führt weiterhin zu Zwang und Gewalt, zu Erpressung und Lügen. Belogen werden nicht nur die Patienten und ihre Angehörigen, belogen werden wir alle.
In George Orwells Roman „1984“ wird die Bevölkerung nicht nur durch allgegenwärtige Überwachung kontrolliert, sondern vor allem durch Propaganda, gezielte Veränderung der Sprache und Gedankenverbote. Die drei Wahlsprüche der Partei sind allgegenwärtig: „Krieg ist Frieden“ , „Freiheit ist Sklaverei“ , „Unwissenheit ist Stärke“. Diese „Wahrheiten“ dürfen nicht hinterfragt oder in Frage gestellt werden. Eine Diskussion hierüber ist nicht möglich. Auch die Psychiatrie beeinflusst unser Denken durch Behauptungen, die zwar durch nichts bewiesen und die oft sogar offensichtlich falsch sind, die uns aber aufgrund ständiger Wiederholung als allgemeingültige Wahrheiten präsent sind. Die angebliche „Tatsache der psychischen Krankheiten“ ist die Prämisse, auf die sich die anderen Wahlsprüche stützen, die wir tagtäglich zu hören und zu lesen bekommen. „Depression ist eine ernstzunehmende Krankheit“ , „Psychosen sind behandlungsbedürftig“, „Psychopharmaka machen nicht abhängig“, „psychische Krankheiten sind behandelbar -je früher desto besser“ sind nur einige dieser Behauptungen. Ganz prominent sind auch die „Störungen im Hirnstoffwechsel“ und das „Ungleichgewicht der Botenstoffe“ die als Begründung für die „Notwendigkeit medikamentöser Behandlung“ angeführt werden. Im Unterschied zu Orwells Dystopie sind abweichende Meinungen und Äußerungen in unserer Welt nicht verboten. Sie werden im öffentlichen Diskurs allenfalls ignoriert und stehen somit einfach nicht zur Debatte. Dennoch sollten wir nicht müde werden, die herrschende Lehrmeinung in Frage zu stellen und den pathologisierenden Blick auf das Aussergewöhnliche anzuzweifeln. Dabei geht es nicht darum gehen, Recht zu haben oder neue Dogmen zu erschaffen, sondern vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen neue Wege zu erschließen.
Mirko Ološtiak, August 2016
1 http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/57914
2 https://idw-online.de/de/news576908
3 http://www.sueddeutsche.de/muenchen/dachau/dachau-wir-entscheiden-nicht-mehr-von-oben-herabueber-den-patienten-1.3085967
4 http://webspace.qmul.ac.uk/spriebe/publications/pub%20by%20year/2005/2005%20-%20Pro%20und%20Kontra%20Machen%20Antistigmakampagnen%20Sinn.%20For%20and%20Against%20Do%20Anti-Stigma%20Campaitns%20Make%20Sense.%20Psychiat%20Prax%2032%20218-220%20REAL%20PDF.pdf
5 http://www.antipsychiatrieverlag.de/artikel/reform/pdf/lehmann-40-jahre-enquete.pdf
6 http://www.antipsychiatrieverlag.de/artikel/recht/pdf/lehmann-enquete-apk.pdf